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Auswirkungen: Szenen einer Weltkrise

Menschen verlieren ihre Arbeit, leben in Zelten, denken an Flucht: Der Abschwung der Wirtschaft hat Hoffnungen zerstört – und neue Kräfte geweckt. Im Vorfeld des G-20-Gipfels berichten acht Auslandskorrespondenten aus ihren Ländern.

CHINA

Frau Wang muss Putzen gehen

Frau Wang ist Analphabetin, doch von der Finanzkrise versteht sie nicht weniger als die gut ausgebildeten Büroangestellten, deren Arbeitsplätze sie mit Wischmopp und Staublappen sauber hält. „Früher habe ich mich in unserem Dorf um den Hof und die Baumwollfelder gekümmert“, erzählt die 43-Jährige. Aber da sich der Preis für Baumwolle in den letzten Monaten halbiert hat, arbeitet die Bäuerin nun in Peking als Putzfrau, für umgerechnet 90 Euro im Monat. „Wenn ich sparsam bin, kann ich einen Teil der Einkommensverluste ausgleichen, die der Rest meiner Familie erlitten hat“, sagt Wang. Denn ihr Mann, der fünf Jahre lang auf den Baustellen der Hauptstadt arbeitete und in den besten Zeiten Tagessätze von acht Euro verdiente, schlägt sich inzwischen als Müllsammler für ein Drittel seines früheren Gehalts durch.

Wangs Tochter hat ihren Job am Fließband einer Elektronikfabrik verloren und verdient seitdem als Kellnerin nur noch die Hälfte ihrer bisherigen 200 Euro. „Früher haben wir für ein besseres Leben gearbeitet“, sagt Wang, „aber im Moment geht es nur noch darum, etwas zu Essen zu haben“. Nach Jahren schwerer Arbeit droht die Familie bald wieder dort anzukommen, wo sie eigentlich weg wollte: an der Armutsgrenze.

Das Schicksal der Wangs erleben zurzeit Millionen Chinesen. Seit dem Frühlingsfest Ende Januar haben 23 Millionen der gut 200 Millionen Wanderarbeiter ihre Jobs verloren, so die jüngste Untersuchung des Nationalen Statistikbüros. Die tatsächliche Zahl der Neuarbeitslosen dürfte noch weitaus höher liegen. Zwar soll ein rund 460 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm helfen, im Hinterland neue Arbeitsplätze zu schaffen. Doch die Unterschiede zwischen Arm und Reich, Land und Stadt, werden unweigerlich größer – und stellen nach Meinung der Regierung eine Bedrohung für den sozialen Frieden dar.

Bernhard Bartsch

GROSSBRITANNIEN

Zu stolz für die Wahrheit

Sie kamen mit dem Traum, in England Fuß zu fassen oder genug Geld für ein Häuschen zu Hause in Polen oder Litauen zu verdienen. Nun sind die Träume zerbrochen. In Peterborough und Lincoln, zwei Vororten von London, leben osteuropäische Migranten – ohne Arbeit und Wohnungen, ungeliebt und gehasst von der Bevölkerung, in notdürftigen Zeltlagern. In London schlagen sie sich in Büsche, liegen unter Pappkartons oder hausen unter Eisenbahnviadukten.

Wie Woijtek. Englisch kann er nicht. Seinen Job als Fliesenleger bei seinem polnischen Arbeitgeber verlor er, weil er bei der Arbeit betrunken war. Einen neuen findet er nicht. Statt des britischen Jobwunders gibt es jetzt zwei Millionen Arbeitslose. Die Löhne am Schwarzmarkt sinken, das Pfund hat als teure Traumwährung ausgedient. Nun trinkt Woijtek täglich viele Flaschen „White Ace“, superstarken Apfelmost, das billigste was in London die Wirklichkeit vergessen lässt. Polen sind stolz. „Ich sehe jeden Tag obdachlose Menschen, die auf der Straße leben, aber zu Hause anrufen und ihren Müttern oder Frauen versichern, sie hätten einen Job“, sagt Jeremy Swain, Direktor der Obdachlosenhilfe Thames Reach.

Schätzungsweise eine Million Osteuropäer und Familienangehörige kamen seit der EU-Erweiterung, um im Boomland Großbritannien Erfolg zu haben. Nun teilt die Rezession diese Menschen unerbittlich in Verlierer und Gewinner. „Viele werden bleiben. Sie sind mit ihren Familien hier angesiedelt und haben, wenn es Probleme gibt, als EU-Bürger Anspruch auf Sozialhilfe“, sagt Jan Mokrzycki, Direktor der Polnischen Föderation in Großbritannien. Aber das gilt nur für diejenigen, die 12 Monate im Land gearbeitet haben – legal. Die anderen fallen durchs Netz. Der Londoner Stadtbezirk Hammersmith hat 150 000 Pfund bereitgestellt, um Hunderten von Osteuropäern auf Londons Straßen Kleider und Essen zu kaufen – und ein Busticket zurück in die Heimat.

Matthias Thibaut

USA

Die Rückkehr der Shantytowns

Zeltstädte sind quer durch die USA aus dem Boden geschossen – wie die Shantytowns, die Hüttensiedlungen in der Großen Depression. Nicht nur in Kaliforniens Hauptstadt Sacramento, sondern überall, an der Ostküste, im Süden, an der Westküste. Am Rande New Yorks sind sie zu finden, in Nashville, Tennessee, in St. Petersburg, Florida, in Olympia, Washington State. Die Zeltstadt in Sacramento ist so bekannt, weil die „Oprah-Winfrey-Show“ berichtete. Präsident Barack Obama reagierte: In einem so reichen Land sei es „inakzeptabel, dass Kinder und Familien kein Dach über dem Kopf haben“. Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger versprach, diese Zeltstadt auf das Messegelände zu verlagern, wo die Camper Zugang zu sanitären Anlagen und einer Suppenküche haben.

Zu den chronisch Obdachlosen sind Menschen gestoßen, die sich gerade so durchs Leben schlugen. Mit der Krise hat sich die Arbeitslosenrate verdoppelt, auf rund neun Prozent. Dann reichte es nicht mehr für die Miete. Soweit die Betroffenen ein Eigenheim hatten, folgte die Zwangsversteigerung, als die Immobilienpreise in den Keller rauschten und die Kredite den Marktwert überstiegen. Die neuen Obdachlosen haben noch Tatkraft. Sie kaufen ein Zelt, sie suchen nach Auswegen. In Fresno, Kalifornien, leben jetzt 2000 der 500 000 Einwohner in Zelten. Viele Latinos sind darunter. Guillermo Flores, 32, wollte sich seinen amerikanischen Traum durch einen Mix aus Erntearbeit und Aushilfe beim Hamburger-Brater erfüllen. Die vergangenen acht Monate hat er Dosen eingesammelt und zum Recycler gebracht. Das bringt fünf bis zehn Dollar am Tag und reichte für den Aufstieg vom Zelt zu einer Hütte mit drei Räumen.

Christoph von Marschall

DUBAI

Eine Stadt bleibt am Boden

„So etwas gab es in Babel nicht“, brüstete sich Nakheel-Vorstandschef Chris O’Donnell. Fünf Monate ist es her, dass er Investoren in Dubai sein neuestes Turmbauprojekt präsentierte. Einen Kilometer sollte der Wolkenkratzer in den Himmel ragen – mit 200 Stockwerken, 150 Aufzügen und Parkdecks für 10 000 Autos. Den Wettlauf hat er aufgegeben. Der Supertower ist abgesagt und mit ihm die Hälfte aller bis 2012 geplanten Bauvorhaben in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).

Das indische Konsulat in Dubai bereitet bereits den Rücktransport von hunderttausenden von arbeitslosen Bauarbeitern in ihre Heimat vor. Insgesamt verloren die Anleger an den sieben Börsen am Golf in den letzten sechs Monaten rund 40 Prozent ihres Kapitals. Der fallende Ölpreis hat vor allem im Iran und Irak zu harten Einschnitten in den Haushalten 2009 geführt. Aber selbst in den extravaganten Luxushotels am Golf ist die Belegung auf Rekordtief gefallen. Längst sitzt den reichen Gästen das Geld nicht mehr so locker wie noch vor einem Jahr. Das spürt auch Ägypten, das noch 2008 mit 12,8 Millionen Besuchern eine Rekordsaison einfuhr. Der neben dem Suezkanal wichtigste Devisenbringer des Landes wankt – für 2009 rechnen die Tourismusplaner mit einem Rückgang von mindestens 15 Prozent.

Martin Gehlen

POLEN

Kein Glück mit dem Franken

„Ich schlafe gut“, sagt Jakub Graczyk und lacht, „aber nur mit starken Schlafmitteln“. Seinen Humor hat der 27-jährige Pole noch nicht verloren – aber eine Menge Geld. Vor knapp einem Jahr hat er sich am Stadtrand von Warschau eine Wohnung gekauft und dafür einen Kredit in Schweizer Franken aufgenommen. Wie bei den meisten Polen war sein Eigenkapital gleich Null, aber die Gelegenheit verlockend. „Starker Zloty, niedrige Zinsen in der Schweiz“, sagt Graczyk. Dann ist aber auch er, der als Analyst bei einer Bank arbeitet, vom Absturz der polnischen Währung überrascht worden. „Der Zloty war überbewertet, das war klar“, sagt er, aber eine Krise solchen Ausmaßes sei nicht abzusehen gewesen. Innerhalb weniger Monate hat der Zloty dramatisch zum Franken verloren.

„Nun habe ich einige Probleme“, sagt Graczyk, „ich bezahle ein Drittel mehr Zinsen, ein Drittel mehr für die Tilgung des Darlehens und meine Wohnung verliert wegen der Krise auch noch an Wert“. Hinzu kommt, dass sein Arbeitgeber ihm mitgeteilt hat, dass es mit der alljährlichen Lohnsteigerung in diesem Jahr nichts werde. Die Krise trifft die Polen so unvermittelt, weil viele sich auf die Worte ihrer Politiker verlassen haben, die erklärten, das Land werde nicht allzu hart getroffen. Das war allerdings zu kurz gedacht, denn die meisten Banken in Polen befinden sind in ausländischer Hand und die Mutterhäuser ziehen das Kapital von ihren Töchtern ab, da sie es in England, Deutschland oder Österreich selbst benötigen. Dieses Geld fehlt nun in Polen für Investitionen. „Das ist eine ganz neue Situation“, sagt Jakub Graczyk. „Über Jahre ging es eigentlich nur bergauf.“ Eines ist für ihn inzwischen sicher: „Die goldenen Zeiten sind vorerst vorbei.“ Knut Krohn

RUSSLAND

Kochbücher statt Kosmetik

Die Fahrt mit der Moskauer Metro ist für den 28-jährigen Dmitri E., dem bisher ein schwerer BMW als Dienstwagen zur Verfügung stand, so gewöhnungsbedürftig wie das Schlangestehen beim Arbeitsamt. Einmal die Woche spricht er dort vor, Hoffnung auf Vermittlung machen ihm die Beamten nicht. Denn Investment-Banker wie er sind in Russland momentan nicht gefragt. Auch Ehefrau Oxana, die in einer Ölförderungsgesellschaft als Juristen arbeitet, rechnet jeden Tag mit der Kündigung. Wie beide die umgerechnet 300 000 Euro zurückzahlen sollen – den Kredit den sie vor zwei Jahren für den Kauf einer Eigentumswohnung aufgenommen haben –, wissen sie nicht.

Von Dmitris Vater, der gleich nach dem Ende der Sowjetunion in Moskau mehrere Wohnungen zum Schleuderpreis kaufte und in den Boomjahren seinen Mietern jährlich Erhöhungen von bis zu 40 Prozent aufs Auge drückte, haben beide auch nichts zu erwarten. Die Mieter, inzwischen ebenfalls ohne Job, sind zurück in die Provinz. Dmitri und Oxana versuchen daher gerade zu lernen, was junge Aufsteiger, deren Gehalt bisher jährlich um bis zu 30 Prozent wuchs, sich vor ein paar Monaten noch nicht einmal vorstellen konnten: zu sparen. Den Urlaub in Ägypten haben sie bereits abgewählt. Und Oxana kauft statt Kosmetik jetzt Kochbücher. Dmitri wartet unterdessen auf einen Termin für ein Einwanderungsvisum beim australischen Konsulat: Er und Oxana, meint er, seien jung, gut ausgebildet und der englischen Sprache mächtig. Elke Windisch

CHILE UND MEXIKO

Gut organisiert in die Krise

Es sollte das höchste Gebäude Lateinamerikas werden, doch dann schlug die Krise zu: das Costanera-Einkaufszentrum in der chilenischen Hauptstadt Santiago bleibt vorerst ein halbfertiger Rohbau. Ein Mahnmal für die zerplatzten Träume einer Region, die sich dank dem Rohstoffboom der vergangenen Jahre schon auf dem Sprung in die Riege der Industrienationen sah. Im Costanera-Projekt wurden von 2800 Arbeitern bereits 1500 entlassen.

Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz gibt es in Krisenzeiten nicht. Allein in Mexiko wird mit einer halben Million Entlassungen gerechnet. „Ich hatte einen mit 53 000 Pesos gutdotierten Bürojob in Mexiko-Stadt vor der Krise. Nun weiß ich nicht, wo ich die Hypothek von 2000 Pesos und das Schulgeld von 4000 Pesos für meine Kinder hernehmen soll“, klagt der 45-jährige Ivan Sanchez. Die Krise wird nach Schätzungen der Weltbank sechs Millionen Menschen auf dem Subkontinent in die Armut zurückwerfen und insbesondere den Textil- und Automobilsektor treffen.

Diejenigen, die jetzt ihre Existenz bedroht sehen, sind allerdings meist gut organisiert und kämpferisch. Überall finden wieder Arbeiterstreiks statt. „Die Arbeitgeber entziehen sich unter dem Vorwand der Krise ihrer sozialen Verantwortung. Sie entlassen Arbeiter, um in ein paar Monaten gegen geringere Gehälter und Sozialleistungen wieder neue einzustellen, da muss der Staat gegensteuern“, sagt der Vorsitzende des chilenischen Gewerkschaftsverbands, Arturo Martinez. Sandra Weiss

SAMBIA

Die Jeeps sind verschwunden

Einen Kilometer unter Tage im fahlen Licht der Mine spürte Emmanuel Katumba lange Zeit wenig von den Bewegungen der Märkte. Wenn er Löcher ins kupferhaltige Gestein bohrte, die andere später mit Dynamit füllten, empfand er bei aller Mühsal auch ein Gefühl von Stolz. „In Sambia“, sagt er, „wird man durch die Arbeit auf den Minen zum Mann“. Dies ist nun erst einmal vorüber. Wegen der globalen Wirtschaftskrise ist China fast über Nacht sein enormer Appetit auf Kupfer vergangen. Viele Minen sind geschlossen worden, ein Großteil der chinesischen Besitzer Hals über Kopf geflohen.

Die Folgen dieses Exodus sind überall zu sehen: viele Bauprojekte am Kupfergürtel sind eingemottet worden, die frisch importieren Jeeps verschwunden. Groß sind die Ressentiments gegen die Chinesen, denen ihr harter Verhandlungsstil und ihre fehlende Wärme hier ohnehin wenige Sympathien beschert hatten.

Schwülwarm ist es derweil unten in der Mine. Feuchtigkeit vermischt sich mit Staub und füllt die fast stockdunklen Gänge, es zischt aus Wasserleitungen, Druckluftrohre summen. Noch gäbe es hier viel zu tun: Hunderttausende Tonnen Kupfer schlummern noch im Innern der Mine und harren der Erschließung. Doch die Aussicht ist schlecht, der Rohstoffhunger der Welt einstweilen gestillt. „Am Ende werden wir wieder auf der Straße stehen und unser Leben in trister Armut fristen“, fürchtet Katumba – und sein Körper zieht sich zusammen, als ob er friere. Wolfgang Drechsler

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