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Meinung: Beim nächsten Mai bleibt alles anders

Seit fünfzehn Jahren versuchen in Berlin die verschiedensten Landesregierungen mit nahezu allen möglichen Mitteln, den 1. Mai friedlich zu halten; bisher vergeblich, wie man weiß.

Seit fünfzehn Jahren versuchen in Berlin die verschiedensten Landesregierungen mit nahezu allen möglichen Mitteln, den 1. Mai friedlich zu halten; bisher vergeblich, wie man weiß. Mal knallt es mehr, mal weniger, mal früher, mal später, das sind die Varianten. Diesmal durfte, diesmal musste Rot-Rot ran, und die neue Regierung setzte auf ein altes, schon einmal vergeblich probiertes Mittel: Die Polizei sollte sich zur Abwechslung mal wieder zurückhalten, um die sensiblen revolutionären Reste bloß nicht zu provozieren. Deeskalation wird das genannt. Der Nachteil dieser Strategie: Außer dem Innensenator will sie niemand so richtig verstehen. Der Chef der Schutzpolizei erklärte seine Idee der Deeskalation vor dem Einsatz so: Seine Leute würden sich nicht hektisch auf jede brennende Mülltonne stürzen, und vielleicht liefen sie auch schon mal an einem brennendem Auto vorbei. Die Gegenseite verstand: Eine brennende Mülltonne reicht nicht, um die Polizei zu provozieren, nicht mal ein brennendes Auto. Also wurde schon in der Nacht zum 1. Mai eine Straßenbahn mit Steinen beworfen, ein Supermarkt geplündert und direkt vor einer Polizeiwache mitten auf der Straße ein großes Feuer entfacht. Das wirkte dann. Ob es am 1. Mai in Berlin Randale gibt, hat also ganz offensichtlich ebenso wenig mit der Polizeistrategie zu tun wie mit der Zusammensetzung des Senats. Da bleibt etwas, das nicht steuerbar ist. Wahrscheinlich hat es nicht einmal etwas mit Berlin selbst zu tun. Krawalle wurden auch aus Hamburg und London, aus Sydney und Manila, aus Buenos Aires und Singapur gemeldet. Was also ist los mit dem 1. Mai, dass an diesem Tag überall Steine und Flaschen fliegen? Ist auf der ganzen Welt soviel Druck im Kessel? Und lässt sich dagegen wirklich nicht mehr tun, als auf einen kräftigen Regen zu hoffen? Auch wenn bisweilen ein anderer Eindruck entsteht: Der 1. Mai gehört den Gewerkschaften, nicht den Gewaltberauschten. Hunderttausende gehen allein in Deutschland an diesem Tag friedlich auf die Straße, um für soziale Gerechtigkeit und Arbeit zu demonstrieren. Man mag das für altmodisch halten, sinnentleert ist es nicht. Eine heile Welt stellen wir uns anders vor. Erst durch Arbeit, sagt der Papst, wird der Mensch richtig zum Menschen. Manche sagen, es gibt Arbeit genug. Fest steht: Viel zu wenige Menschen haben Arbeit, viel zu viele Menschen leben in Armut, weltweit. Am 1. Mai geht es um andere Werte als nur die von Aktien, auch wenn beides miteinander zu tun hat. Das Augenmerk gilt mehr als sonst den Verlierern. Vielleicht liegt es daran, dass die Politik, besonders dann, wenn sie sozialdemokratisch-sozialistisch ist, an diesem Tag besonders skrupulös im Umgang mit ihrem Gewaltmonopol ist. Womöglich sind unter den Randalieren, die zu Unrecht Demonstranten genannt werden, tatsächlich einige jener Verlierer, denen am Tag der Arbeit die öffentliche Fürsorge gilt. Aber die wollen diese Fürsorge gar nicht, sie nutzen sie — wenn überhaupt — nur als Vorwand für ihre ritualisierte Gewalt. Immerhin: Den Vorwand gibt es, der ist nicht eingebildet. Die Politik kann helfen, ihn abzuarbeiten, weltweit. Wozu sonst ist sie da — was bleibt ihr auch sonst? In Berlin hatten Bürger ein Bündnis für einen friedlichen 1. Mai gegründet. Von der Politik forderten sie, die Polizei erst gar nicht in die Problembezirke zu schicken. Von den Randalierern forderten sie, auf Randale mal zu verzichten. So vollständig deeskaliert könne friedlich gefeiert werden. Das war ein wenig weltfremd, denn Randalierer wollen nun einmal partout nicht friedlich feiern. Der Versuch ging dennoch in die richtige Richtung, das Bürgerbündnis hat sich nur an die Falschen gewandt. Verantwortung für den Verlauf des 1. Mai in Berlin tragen eben nicht nur Politiker, Polizisten und Spaßkrawallisten, sondern auch jene zehntausende Bürger, die sich ihre friedlichen Maifeste Jahr für Jahr von einigen wenigen kaputtmachen lassen. Die einen sehen Krawall noch immer als Teil eines aufregenden Spektakels an, die anderen sehen erst gar nicht mehr hin. Solange das so bleibt, gibt es nur eine Hoffnung: dass es beim nächsten Mal richtig regnet. Soll ja deeskalierend wirken.

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