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Meinung: Beißende Lava in der Eckkneipe

Pascale Hugues, Le Point

Der dritte Ort, so erfuhren wir von den Soziologen Ende der 80er Jahre, als unsere Leben zu rotieren begannen wie eine Waschmaschinentrommel im Schleudergang, dieser dritte Ort ist eine Druckausgleichskammer, die wir durchqueren, wenn wir uns vom ersten, dem Arbeitsplatz, zum zweiten Ort, dem Zuhause, begeben. Ein neutraler Raum zwischen öffentlicher und privater Existenz, zwischen Außenwelt und Innenwelt.

In Berlin gibt es Hunderte dieser Orte, in die man sich vor dem Getriebe und Gerenne der Großstadt flüchten kann. Sie haben ihren eigenen Rhythmus, ihre Stammgäste und ihre ganz besonderen Riten. Sie nennen sich Sparstrumpf, Loretta, Deutsche Einheit, Zum Franz oder Germania. Das sind nicht die angesagten Bars mit ihrer minimalistischen Einrichtung, wo man Tiefsinn und existenzialistische Zerrissenheit zur Schau stellt, während man die Nase in einen Latte macchiato taucht. Auch nicht die prätentiösen „Lounges“, in denen die neue Berliner Schickimickiszene sich zur Happy Hour auf Bänken mit künstlichem Leopardenfell niederlässt, um komplizierte Cocktails zu sich zu nehmen.

Zum ThemaMon BERLIN: Lesen Sie den Text im französischen Original Ebenso wenig sind es diese hygienebewussten neuen dritten Orte, die in den letzten Jahren in jedem Kiez aus der Erde geschossen sind: die Fitnessstudios, in denen man sich zwischen 17 und 19 Uhr kollektiven Schweißausbrüchen hingibt und am vitaminisierten grünen Tee nippt. Die Eckkneipe ist eine Enklave der Freiheit. Hier darf man ohne Schuldgefühl mindestens einmal am Tag ganz man selbst sein. Hier wird man nicht schräg angesehen, wenn man stundenlang ein Loch in die Luft starrt, mit den großen feuchten Augen einer wiederkäuenden Kuh. Auf den Hockern der Stuben praktizieren Scharen von Korn- und Pils-Trinkern autogenes Training, ohne es zu wissen.

„Übernächtigt, aber harmlos!“, flüsterte mir vorigen Sonntag die mütterliche Wirtin Gabi zu, als unerwartet eine lärmende Truppe in die morgendliche Lethargie ihres Pilsstübchens einfiel. Drei junge Männer, die mit ihren tätowierten Backen an ein von wildem Wein beranktes Haus erinnerten, machten sich daran, mich mit Rauchwolken einzunebeln. In Italien steht die kleine Meute von Rauchern auf der eisigen Straße, Pestkranken gleich, in Berlin dagegen genießen sie unter dem wohlwollenden Blick des Staates ihre Nikotindosis gemütlich im Warmen.

Völlig sinnlos, bei Gabi das Loblied exotischer Getränke anzustimmen, als da wären Macchiato, Espresso, Cappuccino, Café au lait, Mokka, Mélange … Hier wird keiner verächtlich gemustert, der den Unterschied zwischen einem italienischen Stretto und einem spanischen Lungo nicht kennt. Bis heute widersteht die Berliner Eckkneipe allen äußeren Einflüssen. Hier hat man nicht die Qual der Wahl: Es gibt den Pott Einheitskaffee, und an manchen Tagen meint Gabi es gut und legt auf die Untertasse liebevoll einen Zimtstern, der in seiner Konsistenz an einen Granitbrocken erinnert. Beißende Lava fließt die Speiseröhre hinunter und verbrennt sie, als wäre in den Eingeweiden plötzlich ein Vulkan ausgebrochen. Glücklicherweise steht oben auf dem Regal ein Fläschchen Magenbitter bereit: „Underberg wirkt nach jedem Essen“, verspricht das Etikett.

Die mit Reißzwecken an der Wand befestigten Ansichtskarten aus aller Welt erinnern jedoch daran, dass es noch ein Leben außerhalb dieser kuscheligen Gebärmutter gibt. Stammgäste schreiben von ihrem Heimweh. Überraschend hat es sie in eine Taverne auf Mykonos verschlagen, und nun fühlen sie sich ohne ihren Alten Fritz verloren und wie amputiert. „Der Besuch im Café“, so befinden die Soziologen, „ist eine Weise, wie die Bürger sich zu ihrer Stadt in Beziehung setzen.“

Mit anderen Worten: Der Berliner verliert seine Identität, wenn man ihn von seiner Kneipe trennt. Nach der Rückkehr von der Reise wird als Erstes die Eckkneipe aufgesucht, um sich wieder im wahren Leben zu verankern. Nichts hat sich verändert: Der Geruch nach kaltem Tabak mischt sich mit dem des Toilettenreinigers, und von seiner Schaukel über der Kasse sieht der Harlekin aus Porzellan die Gäste mit demselben traurigen Blick an wie immer. Der Deckenventilator, der Plastikefeu am Fenster, die elektronische Dartscheibe, die Batterie der Zapfgeräte, der holzvertäfelte Tresen, die Lichterketten – alles ist noch da. Schnell wird ein Märchenschloss aus Bierdeckeln gebaut und dazu all dem Klatsch vom Kiez gelauscht, der sich während unserer Abwesenheit angesammelt hat wie die Post im Briefkasten.

Ja, an diesem ersten Morgen ist sogar der Pott Kaffee ein Geschenk des Himmels. Ich bin endlich daheim. Die Welt ist wieder in Ordnung. Zum Teufel mit den Tavernen von Mykonos!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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