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Meinung: Berechenbar unberechenbar

Ostdeutsche Wähler sind von traditionellen Parteibindungen frei – und damit flexibel

Von Gerd Appenzeller

Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Wer glaubt, keine Wahl zu haben, geht nicht wählen. Man kann, rein politikwissenschaftlich, ein solches Verhalten als demokratieunfähig bezeichnen – aber mit welchem Recht eigentlich? Ist es nicht eher sogar heuchlerisch, gegen die eigene Überzeugung seine Stimme einer Gruppierung zu geben, mit deren politischem Programm man eigentlich nicht einverstanden ist, nur, um überhaupt von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen? In den alten Bundesländern haben viele Menschen früher so gedacht. Zu wählen, gehörte in weiten Teilen der Gesellschaft zum guten Ton. Freilich waren das auch Zeiten, in denen man nicht, wie heute, von der vermeintlichen Nutzlosigkeit des Wirkens aller politischen Parteien so frustriert sein konnte, dass Nichtwählen als die redlichere Alternative erscheint. Im Großen und Ganzen waren die Fronten doch klar: Entweder traute man der SPD zu, es den Schwarzen in Sachen Gerechtigkeit und Friedenspolitik zu zeigen, oder der Union, wieder Ordnung in die von den Roten zerrütteten Staatsfinanzen zu bringen.

In den neuen Ländern ist das anders. Die Wähler dort sind in hohem Maße das, was der Börsianer als volatil bezeichnet. Wankelmütig, nicht parteigebunden. Vor vier Jahren haben 77,9 Prozent der Brandenburger bei der Kommunalwahl ihr Stimmrecht ausgeübt. Am Sonntag waren es noch gerade einmal 46 von 100. Im Osten Deutschlands gibt es kaum jene traditionellen Parteipräferenzen, die in der alten Bundesrepublik Wählerverhalten lange irgendwie kalkulierbar machten. Katholiken und das flache Land tendierten eher zur Union, Protestanten und Großstädter, Arbeiter allzumal, machten eher bei der SPD ihr Kreuz. Erst seit die Meinungsforschungsinstitute ihre Wählerwanderungsanalysen vorlegen, wissen wir, dass es das klassische Milieu kaum mehr gibt. Und im Osten offensichtlich nie gegeben hat.

Die Deutschen in der ehemaligen DDR sind ungeduldiger und ungebundener als ihre westdeutschen Landsleute. Sprünge in der Wählergunst wie jetzt in Brandenburg sind, über das letzte Jahrzehnt verglichen, durchaus eher der Normalfall als die Ausnahme. Auch die Tendenz zu politischen Extremen ist (siehe Sachsen-Anhalt bei der vorletzten Landtagswahl) so ausgeprägt wie in Deutschland-West zuletzt während der Großen Koalition, also in den Jahren 1966 bis 1969. Die Erklärungen sind freilich identisch: Damals wie heute artikuliert sich Frust gegen das vermeintliche oder tatsächliche Machtkartell der großen Parteien.

Das Wählerverhalten in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder jetzt Brandenburg (Thüringen und Sachsen sind ein wenig anders gelagert) korreliert aber mit dem in den anliegenden früheren Ostblockstaaten, deren demokratische Traditionen ebenfalls durch ein halbes Jahrhundert roter Diktatur unterbrochen waren. Vor allem in Polen und Ungarn wurden Parteien innerhalb von vier Jahren entweder von 4,7 Prozent auf 41 Prozent hochgespült, oder in der gleichen Frist von 13,2 Prozent auf ganze 0,8 Prozent dezimiert.

Der nicht an eine Partei gebundene Wähler wird nach Meinung der Demoskopen aber auch im Westen künftig viel häufiger sein. Das hängt zum einen mit dem sich schnell wandelnden Profil der Parteien zusammen – sie sind nicht mehr so berechenbar wie früher, weil auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr so berechenbar sind. Das liegt zum anderen an den Menschen selbst, die in ihrer Mehrzahl nicht mehr in bestimmte kirchliche, weltanschauliche oder soziale Segmente eingebunden leben. Wo aber diese Bindung fehlt, wird auch risikofreudiger und spontaner gewählt. Alles oder nichts, heißt die Devise.

Was bedeutet das, am Beispiel Brandenburgs? Zum Beispiel für die CDU, dass sie sich nicht sicher darf, dauerhaft in sozialdemokratisch orientierte Schichten eingebrochen zu sein. Für die SPD, dass es auch noch weiter abwärts gehen kann. In elf Monaten wissen wir mehr. Dann ist Landtagswahl.

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