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Bildabgleich. Touristinnen lassen sich am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Soldaten-Darstellern fotografieren.

© picture alliance / dpa

Berlin als Bühne für Besucher: Wie der Tourismus die Stadt zum Erlebnispark macht

Buchautor Peter Laudenbach meint: Berlins Sehenswürdigkeiten funktionieren mehr als Kulissen eines urbanen Erlebnisparks denn als Teil der städtischen, den Bedürfnissen der Anwohner dienenden Infrastruktur. Mit vielerlei Auswirkungen.

Im touristischen Berlin, wie es sich an den Ostertagen wieder präsentieren wird, ist ein alter Traum der Avantgarde Wirklichkeit geworden – wenn auch etwas anders als beabsichtigt. Vom russischen Revolutionär Meyerhold bis zu Matthias Lilienthals Projekten am HAU wollten die Theatermacher den geschlossenen Kunstraum und den Schutz der Guckkastenbühne verlassen, um das Theater in der Wirklichkeit zu entdecken. Die Stadt selbst sollte zur Bühne werden. Der Choreograf MS Schrittmacher inszenierte „Alice im Wunderland“ bei laufendem Kaufhausbetrieb bei Karstadt am Hermannplatz. Christoph Schlingensief verwandelte ein Obdachlosen- Café in eine Bühne und den Bundestagswahlkampf mit seiner Partei Chance 2000 in ein aberwitziges Spektakel.

Matthias Lilienthal machte die SPD-Parteizentrale oder die ganze Kreuzberger Wrangelstraße zur Bühne. In seiner Reihe „X Wohnungen“, deren jüngste Ausgabe derzeit in Beirut entsteht, werden gewöhnliche Privatdomizile bespielt und verwandeln sich allein durch den ästhetisierenden Blick des Zuschauers in so etwas wie Theaterkulissen. Was dabei zustande kommt, sind irritierende Kippfiguren zwischen Kunstraum und Realität, inszeniertem und vorgefundenem Ort, künstlich hergestelltem und vermeintlich authentischem Setting.

Nichts anderes, nur in sehr viel größerem Maßstab und eher von kommerziellen als von künstlerischen Motiven getrieben, macht ein erheblicher Teil der Berlin-Touristen. Sie machen Ernst mit den Versprechen der site specific art. Da die Stadt nicht nur bei den zahlreichen öffentlichen Großpartys zur Kulisse, zum Erlebnisangebot, zur Event-Bühne. Besonders platt ist diese Theatralisierung der Wirklichkeit an touristisch dominierten Orten zu besichtigen, etwa wenn Statisten in GI- oder Rotarmisten-Uniform vor dem Brandenburger Tor oder am Checkpoint Charlie als fotogene Deko-Elemente posieren. Touristische Orte haben etwas Irreales. Die Hackeschen Höfe, der Kollwitzplatz, das Brandenburger Tor, die Strandbars, die Karaokeshows im Mauerpark funktionieren eher als Kulissen eines urbanen Erlebnisparks denn als Teil der städtischen, den Bedürfnissen der Anwohner dienenden Infrastruktur.

So wirkt der Berlin-Tourismus wie die überdeutliche Bestätigung der berühmten These von Guy Debord, in modernen Gesellschaften erscheine „das ganze Leben als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen zu einem gemeinsamen Lauf.“ Nichts anderes beschreibt Burkhard Kieker, der Geschäftsführer der vom Land Berlin und der Tourismuswirtschaft getragenen Tourismusmarketing-Agentur Visit Berlin, wenn er von Berlin als „authentischem Gesamtkunstwerk“ und der „Hauptstadt der Coolness“ spricht. Diese Berlin-Komplimente haben etwas Irritierendes. Wer möchte schon in einem Gesamtkunstwerk wohnen? Und welche Rolle spielen Stadtbewohner, die nicht zur coolen Hauptstadt passen, Kranke, Arme, Alte?

Der touristische Blick verwandelt die Welt in ein Filmset

Bildabgleich. Touristinnen lassen sich am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Soldaten-Darstellern fotografieren.
Bildabgleich. Touristinnen lassen sich am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Soldaten-Darstellern fotografieren.

© picture alliance / dpa

„Weshalb kommen Leute nach Berlin?“, fragt Kieker. „Unsere Marktforschung sagt, die meisten Besucher wollen vor allem bummeln, sich durch die Stadt treiben lassen. Sie wollen zusehen, was um sie herum passiert und Leute beobachten. Sie wollen am Berliner Leben teilhaben. Das ist die moderne Funktion einer Hauptstadt: Ein großes Testgebiet für alles Mögliche, von Lebensentwürfen bis zur Gastronomie.“

Wenn er meint, Berlin zu besuchen, sucht der Tourist die Bestätigung dessen, was er von „Lonely Planet“-Reiseführern und Postkartenansichten kennt, Tourismus als Klischee-Abgleich. Der britische Soziologe John Urry hat diese Mechanismen in seiner Studie zum „touristischen Blick“ (The Tourist Gaze) mit der Nüchternheit des Sozialwissenschaftlers auseinandergenommen: „Wenn wir verreisen, betrachten wir die Umgebung mit Neugier und Interesse. Sie spricht zu uns auf eine Weise, die wir mögen, zumindest erwarten wir das. Mit anderen Worten: Wir sehen, was wir erwarten zu sehen.“ Unschuldig, naiv, unmittelbar ist daran nichts, schon weil eine ganze Branche der Freizeitindustrie an der Perfektionierung dieses visuellen Konsums arbeitet.

Der Berlin-Tourist besucht die Stadt nicht, wie gerne behauptet, um Unerwartetes zu entdecken, sondern im Gegenteil, um Erwartetes abzuhaken. Sein Berlin ist, je nach Milieu-Vorliebe die Techno-Absturz-Meile, der Hipster-Hotspot oder das ewige Kreuzberg. Gesetztere Berlin-Besucher verwechseln Berlin eher mit dem KaDeWe, dem Alten Museum, dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz. In diesem imaginären Berlin-Film will der Tourist mitspielen. Das erklärt die unbegründete Begeisterung, die bei schlichten Gemütern allein die Tatsache auslöst, vor bekannten, zu Tode fotografierten Orten zu stehen.

Der touristische Blick verwandelt die Welt in ein Filmset, eine Foto-Tapete. Dabei missversteht der Tourist alles, was er sieht, als authentisch, bedeutungsvoll und aufregend. Er verleiht Banalitäten Bedeutung, und er freut sich, wenn er heruntergekommene Hinterhöfe in Neukölln, Straßencafés am Kollwitzplatz, Graffiti in Kreuzberg oder die träge dahinplätschernde Spree unter der Oberbaumbrücke fotografiert.

Diese Verwandlung der Stadt ins Klischeebild ist so alt wie der Städtetourismus. „Das Paris Cartier-Bressons oder Brassaïs hat ganze Generationen von einheimischen und touristischen Fotografen nicht nur eben deren Stadt suchen lassen, sondern ihr Sehen insgesamt gelenkt, das sich als scheinbar dokumentarisch verstand und doch so durch und durch ästhetisch ist, wie die entsprechenden Reportagen von Weegee in New York“, konstatiert der Kultursoziologe Albrecht Göschel.

Die große Nachfrage der sich stetig vermehrenden Touristen, die ein wenig Berlin-Lebensgefühl konsumieren wollen, sorgt für ein vielfältiges Erlebnisangebot. Ein schönes Beispiel dafür lieferten die Tacheles-Bewohner. Sie zogen irgendwann die naheliegende Konsequenz daraus, dass Touristenströme auf der Suche nach der wilden Boheme durch ihre Räume marschierten. Die Tacheles- Künstler verlangten wie im Zoo oder im Wachsfigurenkabinett Eintritt von den Besuchern. Dass sie sich selbst so zu einer Art lebender Wachsfiguren machten, störte sie nicht weiter. Auch eine Berliner Karriere: vom verkrachten Künstler zum Subkultur-Darsteller, der davon lebt, sich bestaunen zu lassen.

Das touristische Berlin-Gefühl kommt ganz gut ohne Berliner aus

Bildabgleich. Touristinnen lassen sich am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Soldaten-Darstellern fotografieren.
Bildabgleich. Touristinnen lassen sich am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Soldaten-Darstellern fotografieren.

© picture alliance / dpa

Ein anderes Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen Bild und Wirklichkeit und die Verwandlung der Stadt in eine touristische Inszenierung konnte man schon Mitte der nuller Jahre beim Kreuzberger Restaurant „Markthalle“ erleben. Der originalgetreue Nachbau der Gaststätte diente in Leander Haußmanns Verfilmung von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ als Musterexemplar einer Kreuzberger Szenekneipe. Schon wenige Wochen nach dem Filmstart bevölkerten Regener-Touristen auf der Suche nach dem Kreuzberger Lehmann-Gefühl den Tresen und die Tische. Einheimische gingen zügig dazu über, ihr Bier an von schwäbischen Lehrerinnen auf Erlebnissuche und hessischen Oberschülern auf Klassenfahrt weniger frequentierten Orten zu trinken. Die Touristen saßen allein in der Film-Deko-Kneipe und fühlten sich als Lehmann-Kreuzberger.

Das Bild hatte die Regie übernommen und genügte sich selbst. Die Kneipe, die als Vorlage für die Fiktion diente, wurde zur Fortsetzung der Fiktion mit anderen Mitteln. Was damals die Kreuzberger „Markthalle“ erlebte, die Verwandlung in die Kulisse eines von Projektionen veredelten Erlebnisangebots, erleben heute zwischen Brandenburger Tor und den Hackeschen Höfen, zwischen Oranienstraße und Kreuzkölln ganze Teile der Innenstadt.

Die gegenseitigen Spiegelungen zwischen Bild und mehr oder weniger verzerrt Abgebildetem sind natürlich alles andere als neu. „Ahmt der Film die Wirklichkeit nach oder diese den Film?“, fragte schon 1931 der Berlin-Flaneur Siegfried Kracauer, um festzustellen: „Zweifellos besteht eine innige Wechselwirkung zwischen der gedichteten Kolportage und der gelebten.“ Knapper lässt sich eine zentrale Voraussetzung des Berliner Tourismus-Booms nicht fassen.

Der Text ist ein Vorabdruck aus Peter Laudenbachs Buch: Die elfte Plage. Wie der Berlin-Tourist die Stadt zum Erlebnis-Park macht. Es erscheint Ende April in der Edition Tiamat (144 Seiten, 13 €).

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