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Meinung: Berliner Rede: Sieh an, ein mutiger Konservativer!

Wir haben einen Bundespräsidenten. Doch wirklich.

Wir haben einen Bundespräsidenten. Doch wirklich. Gestern um die Mittagszeit hat Johannes Rau seinem Amt erstmals eine klare Kontur aufgeprägt. Nicht wie er sich entschieden hat, überrascht, sondern dass er sich endlich mal entschieden hat.

Mit seiner Rede zur Gentechnologie nahm er Partei. Nicht nur für eine gute Sache, die von der Regierung ohnehin verfolgt wird, wie bei seiner Rede zum Zusammenleben von Deutschen und Ausländern, die er vor einem Jahr hielt. Auch das war schon eine entschiedene Intervention, allerdings zugunsten von Rot-Grün, sozusagen mit dem Wind. Das hatte seinerzeit auch Roman Herzog geschafft, als er mit seiner Ruck-Rede die Regierung Kohl unterstützte, die ohnehin beschlossen hatte, Deutschland unter Modernisierungsdruck zu setzen.

Nein, die gestrige Rede von Johannes Rau hatte eher schon etwas Weizsäckerhaftes, weil sie sich gegen den Parteifreund und Bundeskanzler Gerhard Schröder richtete. Nun also ist offenkundig: In Fragen der Gentechnologie vertreten Bundespräsident und Bundeskanzler gegenteilige Standpunkte.

Das ist erstaunlich, weil Johannes Rau schroffe Entgegensetzungen nicht liegen. Diesmal jedoch hat er weitgehend darauf verzichtet, Widersprüche rhethorisch zu umwölken oder in Anekdoten einzurollen. Im Gegenteil. Man scheut sich fast es niederzuschreiben, weil es so unwahrscheinlich klingt, aber: Johannes Rau hat polarisiert. Nicht im Tonfall. Der blieb eindringlich, freundlich, die Argumente der Andersdenkenden wägend. Aber in der Sache. Rau betrachtet den Embryo als Menschen, dem der volle Schutz des Artikel 1 des Grundgesetzes zukommt. Die Embryonen selektierende Präimplantationsdiagnostik lehnt er ab.

Der Bundespräsident hat mit dieser Berliner Rede Partei ergriffen für die Kirchen, für die Grünen, für alle, die einige Entwicklungen in der Gentechnik ablehnen: "Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon." Rau hat so etwas proklamiert wie ein Recht auf Konservatismus, das er gegen alle behauptet, für die Begrenzungen per se als unmodern gelten. "Tabus sind keine Relikte vormoderner Gesellschaften, keine Zeichen von Irrationalität. Ja, Tabus anzuerkennen, das kann Ergebnis aufgeklärten Denkens sein."

Es ist kaum zu übersehen, dass es sich bei diesen Worten um eine direkte Entgegnung auf den Bundeskanzler handelt, der seit einiger Zeit dazu neigt, alle Skeptiker zu Katholiken und alle Katholiken zu Agenten des Mittelalters zu erklären. Und wenn man die Rede genau hört, dann scheint Johannes Rau auch gar nicht die Absicht zu haben, seinen politisch-philosophischen Dissens zum Bundeskanzler abzuschwächen. Dazu ist der Text viel zu reich an kleinen Spitzen, auch gegen die Ansiedlung des Nationalen Ethikrates beim Kanzleramt.

Doch ist diese Rede nicht nur viel mutiger und polarisierender als bei Johannes Rau bisher üblich. Er hat seine Argumentation zur Gentechnik auch weiterentwickelt. Bei seiner ersten Rede, die sich damit befasste, schrieb er den Bezug auf die deutsche Geschichte noch sehr groß. Das war am 26. Januar dieses Jahres, beim Holocaust-Gedenktag. Da erweckte schon der Anlass den Eindruck, als könnte die Kritik an der Gentechnik aus den Nazi-Greueln abgeleitet werden. Heute sagt Rau dazu: "Es gibt keine Geografie des Erlaubten oder Unerlaubten."

Vielleicht vertritt Johannes Rau mit seiner skeptischen, konservativen Haltung nicht die Mehrheit der Bundesbürger (was ungewiss ist). Und wahrscheinlich wird er die Auseinandersetzung mit dem Kanzler am Ende machtpolitisch nicht gewinnen können. Eines jedoch hat er klar signalisiert: Der Versuch, die Skeptiker zu marginalisieren, sie zu einer kleinen unbedeutenden Gemeinde zu erklären, der wird unter diesem Bundespräsidenten nicht gelingen. Damit stehen die Chancen sehr gut, dass die Gentechnik-Debatte in Deutschland mit Respekt, skrupulös, gründlich und mit einem starken Hang zum Prinzipiellen geführt wird, mit anderen Worten: So wie es zu den Deutschen passt.

Es wirkt in diesen Tagen fast wie eine architektonische Karikatur, dass das Bundespräsidialamt rund und dunkel im Wald liegt, während sich das Kanzleramt eckig und frech-weiß strahlend auf der freien Fläche erhebt. Die Gebäude passen eben doch zu den Bewohnern.

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