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Berliner Verkehrspolitik: Kulturrevolution im Kiez

Berlin hat beste Voraussetzungen, eine moderne mobile Metropole zu sein. Doch in der Verkehrspolitik wird gewurstelt statt zu debattieren und zu koordinieren.

Von Markus Hesselmann

Als Berliner nörgeln wir gern, doch tief im Herzen sind wir über jede gute Nachricht glücklich. Vor allem, wenn es um den Verkehr in der Hauptstadt geht. Entsprechend gefeiert wurde kürzlich die vorfristige Wiedereröffnung der Avus. Leser wiesen uns dann darauf hin, dass es eigentlich merkwürdig sei, dass man jetzt schon bloße Reparaturen mit Sektchen und durchschnittenem Band begehe. Als ob es feierliche Eröffnungen wären.

Die Avus-Feierei ist also eher ein Symptom für die derzeit so schwache Berliner Verkehrspolitik. Dabei könnte diese auf einem gewachsenen System aufbauen. Die großzügig angelegten Straßen und Bürgersteige oder das umfassende S- und U-Bahn-Netz sind beneidenswert und kein Grund für provinzielle Jammerei. Dieses historische Pfund wird allerdings nicht von der aktuellen Politikergeneration verantwortet. Es mangelt an Koordination, und es mangelt am Leitbild, das sich aus einer groß angelegten öffentlichen Debatte ergeben müsste.

Andere aktuelle Meldungen stehen denn auch eher für fortgeschrittenes Gewurstel. Vom ganz Großen, dem Dauerskandal BER mit immer neuen Verzögerungen und Finanzlücken, bis zum ganz Kleinen, den vergessenen Fahrradständern am umgebauten Wittenbergplatz. Auch unser Bericht über das Adlergestell, der südöstlichen Ausfallstraße, die nun ausgerechnet in einem Gewerbegebiet fast ohne Anwohner als Autofahrerschikane zurückgebaut werden soll, passt dazu. Und Straßenbaustellen, auf denen sich tagelang nichts tut, gehören längst zur Berliner Folklore.

Manch murrender Autofahrer meint, dass dahinter Absicht steckt. Ein perfider grün-fundamentalistischer Plan, den Autofahrern die Lust am Individualverkehr auszutreiben und Berlin schleichend zum Öko-Moloch umzumodeln. Das ist unwahrscheinlich, denn auch das setzt Koordination voraus. In jedem Fall hemmen Frust und Gejammer – ob jeweils berechtigt oder nicht – eine grundsätzliche Debatte über die mobile Metropole.

Dabei ist deren Wandel frappierend: Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs ging von 1998 bis 2008, dem Jahr, aus dem der Senat die letzten belastbaren Zahlen bekannt gibt, von 38 auf 32 Prozent zurück. In der Innenstadt waren es schon 2008 nur noch 20 Prozent. Der Fahrradanteil an allen zurückgelegten Wegen stieg von 10 auf 13 Prozent. In Friedrichshain-Kreuzberg lag er dann schon bei 21 Prozent. Man kann davon ausgehen, dass sich der Trend seitdem verstärkt, zumal junge Menschen immer weniger Interesse am Auto haben.

Wo die Stadt bei dieser Entwicklung hinwill, darüber ist aus der Politik viel zu wenig zu hören – sogar von den Grünen, für die der Fahrradboom doch eine Vorlage sein müsste. Es ist Zeit, sich ehrlich und den Autofahrern klarzumachen, dass sie immer weniger maßgeblich sind – aber auch mit ihnen nach Wegen zu suchen, auf denen ein rücksichtsvoller, urbaner Autoverkehr künftig möglich ist.

Beispiel Parkplätze: Wer sich etwa über Lieferwagen aufregt, die in zweiter Reihe halten und Hauptstraßen zu einspurigen Gassen machen – sowie Radfahrer gefährden –, der sollte genauer denken. Das Problem liegt einen Meter weiter rechts, beim „Erste-Reihe-Parker“. In Zürich oder London käme niemand auf die Idee, eine Art Menschenrecht zu proklamieren, überall und jederzeit sein Auto abzustellen. Dafür gibt es Regelungen, die Lieferanten und Anwohnern Plätze vorbehalten. Für Berliner wäre schon das eine Kulturrevolution im Kiez. Eine, die wir ernsthaft diskutieren sollten.

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