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Berlins soziale Frage: Kindheit in der großen Stadt

Thilo Sarrazin hat zum Abschied das Wort in den Mund genommen, das Politiker nur ungern aussprechen. Berlin hat eine Unterschicht, sagt er, und sie wächst in beunruhigendem Ausmaß. Das Wort wird selten ausgesprochen, weil es gefährlich ist. Für die Menschen, die dort – unten – leben, klingt es kränkend und herabsetzend.

Er hat zum Abschied das Wort in den Mund genommen, das Politiker nur ungern aussprechen. Berlin hat eine Unterschicht, sagt Thilo Sarrazin, und sie wächst in beunruhigendem Ausmaß. Das Wort wird selten ausgesprochen, weil es gefährlich ist. Für die Menschen, die dort – unten – leben, klingt es kränkend und herabsetzend. Oben oder in den Mittellagen wehrt man den Begriff gern ab, um den Tatbestand nicht zur Kenntnis zu nehmen. Oder, noch gefährlicher, man leugnet eine gesellschaftliche Entwicklung, indem man die betroffenen Menschen selbst dafür verantwortlich erklärt, dass sie da leben, wo Berlin arm, und nicht dort, wo es sexy ist.

Mag sein, dass manche Berliner Transferbezieher sich selbst zuzuschreiben haben, wie sie leben. Für ihre Kinder gilt das nie und nimmer. Und die Kinder sind es auch, deretwegen Sarrazins Bilanz uns aufschrecken muss. Sie zeigt, dass wir nicht über Randerscheinungen reden. Berlin – Transferhauptstadt! Wenn fast 40 Prozent aller Kinder unter 8 Jahren und 57 Prozent der Eltern und sogar 88 Prozent aller Alleinerziehenden mit mehr als zwei Kindern von Hartz IV leben, dann findet in Berlin eine Exklusion, ein Ausschluss vom normalen Leben statt, der die Stadt ins Herz trifft.

Da bekommt das jüngste Lobeswort von Unternehmensberater Roland Berger doch einen ganz eigenen Klang. Berlin, hat er dieser Tage gesagt, ist der Ort, wo „einen das Leben anspringt“. Allerdings – wenn es uns nicht demnächst sogar kräftig beißt! Könnte passieren, wenn so viele Heranwachsende von elementaren Erfahrungen ausgeschlossen sind. Kinderarmut in einer tollen Metropole hat ihr eigenes Gesicht. Ihre größte Gefahr ist die zwangsweise vorgelebte Passivität, wenn Eltern lange vom Arbeitsprozess abgeschnitten sind oder ihre Arbeit nicht reicht, um die Familie zu ernähren. Es fehlt nicht am täglichen Brot, es fehlt die Teilnahme an Musikunterricht oder Vereinen, die damit verbundenen Abenteuer und Exkursionen, es fehlen, kurzum, die Wege „hinaus ins Leben“, an denen kindliche und jugendliche Kräfte wachsen können.

Und natürlich fehlt es auch an Geld. Sarrazins berüchtigte Auflistung über die Auskömmlichkeit der Hartz-IV-Sätze war nicht falsch, weil die für das Essen nicht ausreichen. Sondern weil eine solche Rechnerei gefühllos ist gegenüber Kindern, die von knappen Kassen leben, während direkt nebenan die neuesten Markenklamotten und der Skiurlaub möglich sind. Und in Moabit oder Neukölln ist alles nächste Nachbarstadt; die alleinerziehenden Mütter leben ohnehin überall. Während die Erwachsenen aus den besseren Vierteln und in ihren Büros sich die Wirklichkeit vom Leibe halten können, findet sie für alle Berliner Schüler spätestens vor den Schultoren statt, vor denen die Abziehgangs aus den anderen Stadtteilen stehen. Oder auf der Straße und in den Clubs, wo die Jugendkulturen aufeinandertreffen. Die soziale Kluft in der Stadt hat Sprengkraft.

Berlin ist immer noch kein Wirtschaftsstandort – zu erheblichem Teil wegen der geschichtsbedingten Deindustrialisierung. Kein Bürgermeister kann Arbeit zaubern. Doch Gleichgültigkeit gegenüber arm ist nicht sexy; sie kann nicht das Programm dieser Stadt sein, nicht ihrer Politiker, nicht ihrer Bürger. Berlin braucht Kindergärten und Schulen, die alle Kinder hinaus ins Leben führen. Stimmt, das kostet Geld. Die Wahrheit ist: Dieses Geld wird niemals da sein, wenn wir weiter ignorieren, wie existenziell ganz Berlin darauf angewiesen ist.

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