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Unser Autor Harald Martenstein ist schockiert, wie abschätzig viele Deutsche über das Beschneidungsritual diskutieren.

© dapd

Beschneidungs-Urteil: Ich verstehe das Problem nicht

Das Beschneidungs-Urteil spaltet Deutschland. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine "Verstümmelung", wie viele meinen. Erschreckend ist die hohe Anzahl von Antisemiten, die sich in der Debatte zu Wort melden, wie unser Autor Harald Martenstein feststellen muss.

Seit die Beschneidungsdebatte läuft, sind wir deutschen Männer intimer miteinander. Ich weiß jetzt von vielen Freunden, Bekannten und Kollegen, ob sie beschnitten sind oder nicht. Die Unbeschnittenen tendieren oft dazu, das Kölner Verbotsurteil für richtig zu halten. Alle Beschnittenen dagegen sagen: „Ich verstehe das Problem nicht. Ich habe kein Trauma.“

Nichts, kein Terroranschlag, kein Euro, kein Hunger und kein Krieg, erregt die Deutschen so sehr wie die Vorhaut. Das Volk sagt mehrheitlich: „Na, endlich! Schluss mit der Barbarei!“ Ich habe etwa 500 Volksmeinungen gelesen. Nicht die Mehrheit, aber ein beachtlicher Teil davon ist antisemitisch. Das macht mir mehr Angst als jedes Chirurgenmesser. Geht doch zurück in die Wüste, wenn es euch hier nicht passt! Diese prächtige Gelegenheit, den unzivilisierten Juden mal im Namen des weltberühmten deutschen Humanismus die Meinung zu geigen, lassen sich interessierte Kreise nicht entgehen. Wobei man bei den Juden ja immer vorsichtig sein muss. Bei den Muslimen weniger. Wie wäre es mal wieder mit einem kleinen Kreuzzug? Diesmal nicht zur Befreiung Jerusalems, sondern zur Befreiung der Vorhaut?

Ich höre schon den Vorwurf, ich sei zynisch und menschenverachtend, ich triebe Spott mit dem Leid kleiner Knaben. Ach, wisst ihr. Es gibt Komödien über den Holocaust.

Man kann natürlich dieser oder jener Meinung sein, es ist eine schwierige Abwägung. Wie wäre es, vor einer Zwangsbefreiung die Opfer nach ihrer Ansicht zu fragen? Wenn man sucht, findet man alles, auch beschnittene Männer, die unter ihrem Zustand leiden. Aber man muss lange suchen. Die übergroße Mehrheit hat keine Probleme und findet es sogar gut. Es handelt sich auch nicht um eine „Verstümmelung“. Der Eingriff ist klein und, wenn kein Kurpfuscher ihn ausführt, nicht riskanter als eine Nasenkorrektur. Im Netz lese ich, dass Beschnittene keinen richtigen Sex mehr haben könnten, dass sie zur Selbstbefriedigung nur mithilfe von Werkzeugen wie etwa einem Hammer imstande wären, es gibt eine Flut von ahnungslosem Unsinn.

Ja, sicher, es wäre besser, wenn erst der erwachsene Mann darüber entscheiden dürfte, ob er es machen lässt oder nicht. Dafür bin ich auch. Aber soll Deutschland deswegen zwei Weltreligionen in die Illegalität treiben? Es geht nicht um Menschenopfer oder Steinigungen oder Handabhacken. Es ist ein kleiner Eingriff. Genau das ist, bei der Abwägung, der entscheidende Punkt: Ob man die Beschneidung für einen großen Eingriff mit schlimmen Folgen hält oder für eine, im Normalfall, relativ kleine Sache, die auch Vorteile hat. Darüber, ob sie befreit werden müssen, wissen die Betroffenen manchmal ein bisschen besser Bescheid als andere. Ich verstehe das Problem nicht.

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