zum Hauptinhalt
Ukrainische Sicherheitskräfte bei einer Übung zur Vorbereitung der Fußball-EM

© reuters

Boykott-Debatte zur EM in der Ukraine: Moral ist gut, solange sie nicht wehtut

Zur Moral gehört Mut. Mut bedeutet Risiko. In der Diskussion um die Fußball-EM, Timoschenko und die Ukraine fehlt beides. Anmerkungen von Malte Lehming zu einer skurrilen Debatte.

Moral ist gut, solange sie nicht wehtut. Wir lassen Joachim Gauck seine Ukraine-Reise absagen, die EU-Kommission ebenfalls, ermuntern die Nationalkicker, auch einmal öffentlich ihre Meinung zu sagen, sinnieren darüber, ob nicht alle EM-Spiele nach Polen verlegt werden können – aber die deutsche Mannschaft in der Ukraine einfach nicht antreten zu lassen, das wäre zu viel des Guten. Das würde wehtun. Das Fußballherz für die Menschenrechte bluten zu lassen, nein, so weit gehen wir nicht. Wir wollen gut sein und unseren Sportspaß haben. Ein Entweder-Oder lehnen wir ab.

Zur Begründung heißt es, ein Boykott der Europameisterschaft nütze keinem, und ein Alleingang Deutschlands wäre ein Fehler. Doch das ist eine Ausrede. In der Ukraine Fußball zu spielen, nützt auch keinem. Dass die EM das Regime ziviler macht, ist ein frommer Wunsch. Wandel trotz Anbiederung? Wenn das durch den Sport funktionieren würde, sollten die Olympischen Spiele künftig abwechselnd in Iran und Nordkorea stattfinden. Und die Vergabe der Eishockey-WM an Weißrussland wäre ein grandios kluger Streich.

Die Causa Timoschenko in Bildern:

Zur Moral gehört Mut. Mut bedeutet Risiko. Den Dalai Lama im Kanzleramt zu empfangen, ist mutig; den vom Tode bedrohten dänischen Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard zu würdigen, ist mutig; Manuskripte des sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn in den Westen zu schmuggeln, wie Heinrich Böll es tat, ist mutig; sich als Blogger in Ägypten mit dem Militär anzulegen oder als Künstler in China mit der kommunistischen Diktatur, ist mutig; sich in Europa für die Religionsfreiheit von Muslimen und in der muslimischen Welt für die Religionsfreiheit von Christen einzusetzen, ist mutig. Aber von Angela Merkel zu fordern, die EM in der Ukraine zu boykottieren, ist Gratismut. Das dient allein der Beruhigung des eigenen Gewissens.

Die USA zeigen, wie Realpolitik funktioniert

Fast zeitgleich meldeten sich jetzt zwei prominente Grüne zu Wort. Während Claudia Roth einen politischen Boykott der EM- Spiele in der Ukraine verlangte, warb Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann für den zügigen Bau neuer Gaskraftwerke in Deutschland, um die „Herausforderungen der Energiewende“ zu meistern. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Ganz einfach: Die Energiewende, sprich der Atomausstieg, zwingt Deutschland unter anderem dazu, mehr Erdgas aus Russland zu beziehen. Darüber freuen sich Gasprom und Wladimir Putin. Die Energieexporte sind die Stütze des russischen Regimes. Kiew boykottieren, aber Russland finanzieren: Man muss schon Grüner sein, um diese Logik zu verstehen.

Die Ukraine - Europas wilder Osten in Bildern:

Der Handel mit China floriert, aus Saudi-Arabien fließt das Öl, aus Russland kommt das Gas. Das zwingt ein geschichtsbeladenes, export- und energieabhängiges Land wie Deutschland zu wohl dosierter Menschenrechtsrhetorik. Und zu einer wertegeleiteten Realpolitik, also jener übel beleumdeten, oft verspotteten Sichtweise auf die Welt, die das Gute mit dem Machbaren versöhnen will.

Wie Realpolitik funktioniert, hat soeben die US-Regierung in China gezeigt. Fast geräuschlos und ohne öffentliche Bezichtigung wird wohl die hoch empfindliche Affäre um den blinden Bürgerrechtler Chen Guangcheng gelöst. Manchmal geht Moral auch ohne Tamtam.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false