zum Hauptinhalt
Die nördlichste Bibliothek ist ein Container in der Antarktis. Da ist noch gut lesen.

© dpa

Bücher und Erbschaft: Wer braucht all diese Bücher?

Tonnen von Büchern werden an die nächste Generation vererbt. Die Erben dieser Bücherberge sind ästhetisch und kulturell aber längst ganz woanders. Wohin also mit Böll, Grass, Fontane und Walser? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Über das immaterielle Erbe der Deutschen ist anlässlich des Holocaust-Gedenktags viel geschrieben worden. Und wer gerade das Haus der Eltern in Bad Oldesloe geerbt hat, versteht gleichermaßen gut, was unter dem materiellen Erbe dieses Landes zu verstehen ist: Bis 2020 werden 2,6 Billionen Euro an die nächste Generation vererbt oder verschenkt. Das eine gibt es nicht ohne das andere.

Nur über das, was in all diesen Einfamilienhäusern lagert, oft hoch bis unter die Decke, wird nicht geredet – dieses tonnenschwere materielle Erbe, das nur immateriellen Wert besitzt: überall die gleichen Schuber mit Bölls, Manns und Fontanes Gesammelten Werken, die Erica Jongs und die frühen Walsers, die Kaschnitz im Taschenbuch und von Fischer die Schwarze Reihe. Millionen von Büchern, Klassiker vielleicht, aber natürlich keine Erstausgaben. Bücher, die niemand wieder oder, angesichts des neuen Romans von Daniel Kehlmann, auch nicht zum ersten Mal lesen wird. Und doch sind sie Teil des Erbes.

Marcel Reich-Ranicki hat viele seiner Bücher schon zu Lebzeiten an die Uni Marburg übergeben und seinen Nachlass einschließlich der Bücher mit Widmung an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach vererbt. Wem Marbach die Bücher nicht abnimmt, dem wird geraten, sie der Staatsbibliothek zu spenden oder der Diakonie oder sie einfach im Hausflur liegen zu lassen. Doch wie viel Erich Fried kann ein Nachbar verkraften?

Wer großes Glück hat, dem fällt nicht eine Marx-Engels-Gesamtausgabe auf die Füße

Bücher wurden schon immer vererbt, doch die moderne Massenproduktion und die gesellschaftspolitische Bedeutung von Literatur und Theorie für die 68er, die gern den Eindruck erweckten, ihr Leben habe aus Sex und Lesen bestanden, ließen die Bestände dramatisch wachsen. Nun werden diese Bestände weitergereicht, und nur wer großes Glück hat, dem fällt dabei nicht eine Marx-Engels-Gesamtausgabe auf die Füße.

Die Erben dieser Bücherberge sind ästhetisch und kulturell längst woanders. Der Status und Schmuck, der einst von Bücherwänden ausging, bedeutet ihnen nichts mehr. Aber auch die, die Bücher heute statistisch lieber elektronisch lesen, schieben jedes Jahr Bücher im Wert von sieben Hardcovern oder 14 Taschenbüchern ins Regal. Kein Wunder, dass im Internet die Frage diskutiert wird, ob man in Deutschland – der Hinweis auf 1933 muss nicht explizit gemacht werden – Bücher in den Müll werfen dürfe. „Man darf alles wegwerfen, sogar schal gewordene Liebe“, sagt Elke Heidenreich und fügt apodiktisch hinzu: Aber „man darf kein Buch wegwerfen“.

Verkaufen kann man sie auch nicht. Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum – oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“, ein Schlüsselroman seiner Zeit, wird auf einer Antiquariatsplattform im Internet für 2 Euro 55 angeboten; auf momox.de, wo Bücher verkauft werden können, wird die Erzählung als dtv-Ausgabe gar nicht erst angenommen. Die gebrauchten Bücher, die in den kommenden Jahren vererbt werden, haben keinen Wert. Und Platz gibt es für sie auch nicht. Sie werden ein letztes Mal durch die melancholischen Hände der Erben gehen, dann ist auch diese Vergangenheit bewältigt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false