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Bundespräsidentenwahl: Im Rausch der Gefühle

Die Opposition jubelt: Ihr Kandidat, Joachim Gauck, hat erst im dritten Wahlgang verloren. Doch gefühlte Siege sind eben nur das – gefühlt.

Einigen Menschen fehlt der common sense. Andere verlieben sich in verrückte Ideen. Aber dass die gesamte Opposition plus ein Großteil der Medien plus eine Mehrheit der Bevölkerung mehrere Wochen lang in einen realitätsverweigernden Rausch gerät, dürfte in der deutschen Geschichte noch nicht oft passiert sein. Sie rochen Rebellion und Revolution. Sie witterten Chancen und Möglichkeiten. Mit Fakten und Wahrscheinlichkeiten hatte das nie etwas zu tun.

Zum Glück könnte der Spuk bald vorbei sein. Am Mittwoch wurde Christian Wulff, der Kandidat von Bundeskanzlerin Angela Merkel, zum neuen Bundespräsidenten gewählt - zwar nicht bereits im ersten Wahlgang, aber zum Schluss, mit absoluter Mehrheit, eben doch. Diesen Sieg feiert nun die Opposition als den Ihren. Das weckt Erinnerungen an Gerhard Schröders Auftritt am Abend der Bundestagswahl 2005. Die reale Niederlage wird zum gefühlten Sieg uminterpretiert.

Doch der Reihe nach. Am 14. Juni veröffentlichte das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ ein eindrucksvolles Titelfoto von Merkel (CDU) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Der Hintergrund des Bildes war pechschwarz, die Gesichter von Merkel und Westerwelle wirkten wie versteinert. Darüber stand nur ein Wort: „Aufhören!“ Das Konkurrenzmagazin „Focus“ fragte auf seiner Titelseite: „Sparen, streiten, stänkern – Wie lange hält die schwarz-gelbe Koalition noch?“ Kurz zuvor sah die Opposition bereits vorgezogene Neuwahlen am Horizont. „Diese Regierung ist gescheitert, und wenn die das einsehen, wäre eine vorgezogene Bundestagswahl der sauberste Weg“, sagte der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier. Es sei zum „Schaden des Landes“, wenn Union und FDP versuchten, „irgendwie mit Durchhalteparolen“ gemeinsam weiter zu regieren. „Deutschland steckt in einer tiefen Krise – und hat die schlechteste Regierung seit 1949.“

So tönte es täglich laut durchs Land. „Wir könnten die Regierung übernehmen, auch von heute auf morgen“, prahlte Steinmeiers Kollege, SPD-Parteichef Sigmar Gabriel. Die Grünen zogen eifrig mit. „Das Wort Neuwahl ist im Kopf und im Herzen von jedem, der jetzt politisch verantwortlich denkt“, sagte Grünen-Fraktionschefin Renate Künast. Der zweite Fraktionschef der Grünen, Jürgen Trittin, blies gar in die größte Oppositions-Vuvuzela und warnte gewissermaßen vor einer Wiederholung der deutschen Geschichte: „Wenn der Verfall im schwarz-gelben Lager weitergeht, ist eine rechtspopulistische Partei in Deutschland nicht auszuschließen.“ Kein Wunder, dass auf dem Höhepunkt dieser Kampagne 53 Prozent der Deutschen damit rechneten, dass das Regierungsbündnis aus Union und FDP vorzeitig zerbricht.

Nun lief in der Tat nicht vieles harmonisch in den vergangenen neun Monaten, seitdem Merkel und Westerwelle regieren. Insbesondere die FDP, die 14,6 Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte, setzte sich immer wieder dem Verdacht aus, mit der Forderung nach Steuersenkungen nur ihre eigene Klientel bedienen zu wollen. Man stritt sich öffentlich – und nicht immer zimperlich - über die Gesundheitsreform, die Fortsetzung der allgemeinen Wehrpflicht und ein drastisches Sparprogramm. Dann ging die wichtige Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verloren, Deutschland bevölkerungsreichstem Land. Und weil sich das Pech gern zum Unglück gesellt, warf überraschend Bundespräsident Horst Köhler – ein Mann von Merkel und Westerwelles Gnaden – das Handtuch.

Innerhalb weniger Tage entschied sich Merkel für einen Nachfolger, den braven, blassen, relativ jungen Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Christian Wulff. SPD und Grüne indes gelang ein Coup. Sie schickten Joachim Gauck ins Rennen, einen prominenten Bürgerrechtler der ehemaligen DDR, charismatisch, rhetorisch versiert, ideologisch eher konservativ, im Volk beliebt. Mit dessen Nominierung hoffte die Opposition, das konservativ-bürgerliche Lager spalten zu können.

Doch auch diese Seifenblase ist zerplatzt. Ein paar Abtrünnige musste Merkel bei der Wahl von Wulff zwar verschmerzen, aber triumphale Siege fährt sie nie ein, sondern nur Arbeitssiege. Sie rackert und schuftet, es riecht nach Mühsal und Kampf. So war es auch diesmal. Doch Merkel weiß: Nicht Blendwerk und schöne Reden zählen, sondern Zahlen, Daten, Fakten. Und die hat sie auf ihrer Seite.

Fünf Millionen Arbeitslose hatte ihr Vorgänger, Gerhard Schröder (SPD) hinterlassen – ohne Finanz- und Wirtschaftskrise. Unter Merkel nimmt die Arbeitslosigkeit trotz Krise stetig weiter ab und wird bald bei drei Millionen liegen. Die Konjunktur zieht spürbar an, in diesem und dem kommenden Jahr wird die deutsche Wirtschaftsleistung weiter zunehmen und das Land zu Europas Wachstumslokomotive machen. Insbesondere die Automobilindustrie boomt. Bei Daimler, BMW und Audi stehen die Bänder nicht mehr still. Auf den starken Nachfrageanstieg reagieren die Firmen mit Sonderschichten. In einigen Standorten müssen die Sommerferien ausfallen.

Die wirtschaftliche Belebung wiederum entlastet die Staatskasse. In diesem und dem nächsten Jahr werden voraussichtlich fünf bis sieben Milliarden Euro an Steuern mehr eingenommen, als erwartet worden war. Der Rückgang der Kurzarbeit entlastet die Staatskasse um eine weitere Milliarde. Und: Das größte Sparpaket in der deutschen Geschichte wurde vom Kabinett ohne Steuererhöhungen beschlossen.

Auch international setzt Merkel sich durch. Auf dem G-20-Gipfel in Toronto hat ihr Credo des Sparens und der soliden Staatsfinanzen dem US-Drängen nach höheren Investitionen erfolgreich Paroli geboten. An Merkels Seite steht jetzt sogar der neue britische Premier David Cameron. Und bei der Euro-Rettungsaktion infolge der Griechenlandkrise gelang es Merkel, den IWF einzubinden. Damit strapazierte sie zwar die Geduld von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, hatte am Ende aber ein Druckmittel in der Hand, um auch Athen zum Sparen zu animieren.

Wer sich der Realität verweigert, wird unverdrossen weiter von einer Meuterei gegen Merkel träumen. Der Trost der Opposition heißt, dass das Regierungsbündnis nicht geschlossen für Christian Wulff gestimmt hat. Es ist ein schwacher Trost. Gefühlte Siege sind eben nur das – gefühlt. Deutschland hat einen neuen Präsidenten, Merkel bleibt an der Macht, Lena hat den Eurovisions-Wettbewerb gewonnen, und die deutsche Fußballmannschaft spielt ganz gut. Vielleicht wird sich die schlechte Stimmung der guten Lage ja bald anpassen.

Copyright: Dow Jones. Dieser Text erschien heute im "Wall Street Journal"

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