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Eine merkwürdige Melancholie liegt derzeit über dem Bundestagswahlkampf. Er hat bislang keine Themen und keine Zuspitzung. Die ewige Kanzlerin Angela Merkel wirkt unschlagbar, Guido Westerwelle gilt plötzlich als großer Staatsmann. Dazu verbreiten SPD und Grüne eine Stimmung, als habe sich die Opposition schon aufgegeben. Am Freitag vergangener Woche verabschiedeten sich die Bundestagsabgeordneten in einen kurzen Sommerurlaub, bevor im August die Plakate ausgepackt werden. Von Spannung keine Spur. Einziger Höhepunkt des Wahlkampfes waren bislang jene Tränen, die SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf dem Konvent seiner Partei verlor, als ihn seine Frau mit der Frage konfrontierte, warum tust Du dir das an.
Doch wer glaubt, es stünde ein langweiliger Bundestagswahlkampf bevor, der irrt sich gewaltig. So unwahrscheinlich es klingt, die SPD kann die Wahl noch gewinnen, selbst der viel gescholtene Peer Steinbrück kann noch Kanzler werden. Es ist in diesem Wahlkampf, der so uninspiriert wirkt und von einer unnahbaren Kanzlerin bestimmt wird, noch ziemlich viel drin. Wenig, fast nichts spricht dafür, dass die Wahl so ausgeht, wie es die Demoskopen derzeit vorhersagen.
Die Meinungsumfragen, die Woche für Woche gleich im halben Dutzend auf Politiker und Wähler niederprasseln, vermitteln ein sehr trügerisches Bild. Es gab in den letzten beiden Jahrzehnten genügend Wahlkämpfe, in denen die Stimmung in der heißen Phase noch dramatisch gekippt ist. 2002 etwa sah Edmund Stoiber schon wie der sichere Wahlsieger aus. Zwölf Wochen vor der Wahl konnten Union und FDP zusammen auf 50 Prozent der Wähler hoffen. Rot-Grün lag weit zurück und holte den Rückstand im Wahlkampf noch auf. 2005 lag die Union zwölf Wochen vor der Wahl 17 Prozentpunkte vor der SPD, Schwarz-Gelb hatte bereits damit begonnen, die Ministerposten zu verteilen. Aber es kam anders.

Mit einem aggressiven und polarisierenden Wahlkampf kämpften sich die Sozialdemokraten angeführt von Kanzler Schröder aus dem Stimmungstief. Am Wahltag lag die SPD nur noch einen Prozentpunkt zurück. Hätte der Wahlkampf vor acht Jahren noch eine Woche länger gedauert, Merkel hätte den riesigen Vorsprung wohlmöglich noch ganz verspielt und wäre nie Kanzlerin geworden. Doch statt einer bürgerlichen Regierung blieb ihr nur die Große Koalition. Nur 2009 tat sich im Wahlkampf nichts, die Wahl ging fast exakt genau so aus, wie die Meinungsforscher Anfang Juli prognostiziert hatten. Merkel gewann unspektakulär, die FDP profitierte von der Großen Koalition und die SPD stürzte in der Wählergunst ab.
Nur spricht wenig dafür, dass sich 2005 in diesem Jahr wiederholen und die Kanzlerin mit ihrer Strategie der asymmetrischen Demobilisierung noch einmal Erfolg haben wird. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass es in diesem Jahr anders kommt. Die Stimmung in der Bevölkerung ist alles andere als stabil, jeder dritte Wähler weiß noch nicht, welche Partei er am 22. September wählen wird. Die Oppositionsparteien können aller Voraussicht nach mehr von den unentschiedenen Wählern profitieren als die Regierungsparteien.
Erstens wird Merkel in der öffentlichen Meinung über-, Steinbrück hingegen unterschätzt. Viele Wähler vertrauen der Kanzlerin, haben aber wenig Zutrauen in die schwarz-gelbe Bundesregierung. Merkel wird es im Wahlkampf kaum gelingen, sich von der schlechten Performance ihres Kabinetts vollkommen abzukoppeln. Steinbrück hingegen hat noch jede Chance mit einem beherzten Wahlkampf sein schlechtes Image zu korrigieren.
- Selbst Steinbrück kann noch Kanzler werden
- Die CDU hat ihr Wählerpotenzial ausmobilisiert.
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