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Bundesverfassungsgericht und die Euro-Krise: Die Richter der Revolution

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinen Urteilen zum Sehnsuchtsort der Euro-Skeptiker gemacht. Es ist an der Zeit für alle, wieder auf Distanz zu gehen.

Sie hat es schon oft gehört, das B-Wort, dann war es ihr zu viel. „Wenn ich noch einmal Bundesverfassungsgericht höre, verlasse ich den Saal“, soll Christine Lagarde gedroht haben, Chefin des Internationalen Währungsfonds. Man kann es ihr nachfühlen. Europa wackelt, Regierungen fallen, Volkswirtschaften stürzen in die Rezession, da murmeln politische Entscheider vornehmlich deutscher Herkunft in den Runden der Euro-Retter beständig von jenem singulären Rechtsprechungsorgan, das unser Grundgesetz behüten soll.

Ganz so, als würde in Karlsruhe über das weitere Schicksal der Gemeinschaft entschieden, nicht in Paris oder Berlin und schon gar nicht in Brüssel. Als wüssten jene dort zuständigen acht von insgesamt 16 Richterinnen und Richtern nach dem Studium einer Handvoll Verfassungsartikel besser, wie man Staatsschulden in den Griff bekommen, Märkte zur Ruhe bringen und Inflationsgefahren dämpfen kann.

Oh ja, sie wissen es. Oder zumindest denken viele, dass sie es dort wissen. Anders wäre kaum zu erklären, welch fast gespenstischen Zuspruch das vornehmste Gericht des Landes genießt. Jetzt, wo die Richter nach einer Reihe von Euro-Urteilen am kommenden Mittwoch über den ESM und den Fiskalpakt zu entscheiden haben, finden es mehr als 80 Prozent der Deutschen gut und richtig, wie das Gericht der Politik in die Parade fahren kann. Ein historischer Spitzenwert, begleitet von einem tiefen Vertrauen in die Institution und die Klugheit seiner Entscheidungen. Karlsruhe, beliebt wie nie. Warum sollte man den Raum verlassen, wenn jemand darauf zu sprechen kommt?

Stellt man das augenblickliche Temperament in Rechnung, so äußert die im Übrigen als beherrscht geltende Frau Lagarde ein Unbehagen, das hierzulande die wenigsten teilen. Laut jüngster Zählung sind es nur acht Prozent. Es ist die Skepsis an der Machtfülle eines Gerichts, das sich in einer weltweit einzigartigen Weise zu einem politischen Faktor und einer besonderen Form von Staatsgewalt aufgeschwungen hat. Nun ist ihm aufgegeben, die in der EU beschlossenen Rettungspläne zu durchkreuzen. Umfragen zufolge will es eine Mehrheit der Deutschen so.

Verbieten die Richter Bundespräsident Gauck, die Zustimmungsgesetze zu ESM und Fiskalpakt zu unterschreiben, entfällt die 190-Milliarden- Euro-Zusage für den permanenten Schuldenfonds. Das muss zunächst kein Drama sein, weil es ja noch den temporären EFSF gibt, kann aber eines werden, weil die Reaktion der Märkte und die ökonomischen Folgen für geschwächte Mitgliedsländer unabsehbar sind. Europas stärkste Wirtschaftsnation zöge sich zumindest vorübergehend aus der Euro-Rettung zurück. Ob ihr später ein neuer Anlauf gestattet ist, wäre nach einem solchen Spruch fraglich.

Haben sich die Richter hier herauszuhalten? Die Vermischung von Politik und Recht finden manche bedenklich. Die Verfassungsrichter entgegnen Zweiflern, das eine vom anderen trennen zu können. Beispielhaft wird das Bild vom Rahmen bemüht, innerhalb dessen sich das Primat der Politik entfaltet. Außerdem heißt es, man werde ja immer nur auf Antrag tätig und gestalte nichts selbst.

Amtierende Richter können und sollten nicht anders reden. Doch verfehlt es die Realität. Natürlich entscheiden die Richter auch politisch. Nicht nach Parteien oder Positionen und auch nicht allein wegen der politischen Fallmaterie, wohl aber mit dem uneingestandenen Blick auf das jeweilige Ergebnis. Das gilt als juristisch unfein. Doch „politisch“ kann es schon sein, in Auslegungsfragen Kategorien gesellschaftlicher Verantwortung mitzudenken.

Dem Grundgesetz einen Totalanspruch verschaffen

Trotzdem ist das Bundesverfassungsgericht ein Sonderfall und seine gegenwärtige Potenz auch Ergebnis kalkulierter Selbstermächtigung. Angelegt war das im Grundgesetz, das im Erschrecken über die Rechtsperversion der Nazis von anderen europäischen Verfassungstraditionen abwich, als es in seinem ersten Artikel den Gesetzgeber ausdrücklich an die Grundrechte band. Erst kommt der Einzelne, dann das Kollektiv. Aus dieser Priorität heraus entwickelte das Gericht die Grundrechte als objektive Wertordnung mit maximaler Durchschlagskraft. Wer fortan Recht anzuwenden hat, musste die Verfassung mitanwenden. Umgekehrt eröffneten sich die Karlsruher Richter damit Zugriff auf nahezu jeden Rechtsstreit, um ihn im Bedarfsfall selbst zu entscheiden.

Diese Ausweitung der Urteilszone liegt jetzt schon mehr als 50 Jahre zurück. Die Strategie dahinter ist dieselbe geblieben: dem Grundgesetz einen Totalanspruch zu verschaffen, der mit einem breiten Sortiment von Verfahren eingeklagt werden kann. Das produziert im Einzelfall regelmäßig Enttäuschung, weil nur ein Bruchteil der Anträge später erfolgreich ist. In der öffentlichen Wahrnehmung jedoch wurde Karlsruhe so zum Sehnsuchtsort der von unteren Gerichten Gepeinigten; hier verspricht man sich Erlösung vom Justizbürokratismus und hofft auf irdische Gerechtigkeit.

So langsam wird das Bild vom Grundrechtsgericht von den Schlagzeilen über das Europagericht verdrängt – die höchsten Richter als Aufseher des deutschen Weges in die EU. Das nötige Werkzeug dafür hatten sie sich mit dem Maastricht-Urteil zur Währungsunion 1993 selbst in die Hand gegeben. Sie machten die Grundgesetz-Zentralvorschrift über die repräsentative Demokratie für Europakläger beschwerdefähig, das Bundestagswahlrecht in Artikel 38. Seitdem darf jeder (!) Bürger das Gericht anrufen, wenn er meint, die Abgeordneten im Parlament überschritten mit einem Transfer von Kompetenzen an die EU die ihren als Vertreter des Volkes. Die Verfassungsbeschwerde als Mittel der Demokratiekontrolle. Eine Popularisierung mit weitreichenden Folgen.

2009 fiel dann ein Urteil, das für alle laufenden Diskussionen die Weichen stellte. Das Gericht segnete die Zustimmungsgesetze zum Lissabon-Vertrag ab, mit dem in der EU Rechte und Zuständigkeiten neu geordnet wurden. Wichtiger noch: Zugleich erkannte es eine „Verfassungsidentität des Grundgesetzes“ und entzog deren „unantastbaren Kerngehalt“ jedem parlamentarischen Wunsch und Wollen. Nicht mal eine Zweidrittelmehrheit würde genügen, mit der die Verfassung selbst zu ändern wäre.

EU hin oder her, es muss – jedenfalls unter diesem Grundgesetz – ein demokratisch und autonom verwaltetes Rumpfdeutschland geben, das wichtige Dinge selbst regeln kann. So lautete die neue Direktive aus Karlsruhe. Der souveräne Staat soll erkennbar bleiben. Aus Sicht vieler Brüsseler Eurokraten ein Spruch mit reaktionärem Charakter. Da müht man sich Jahrzehnte, nationalstaatliche Horizonte zu überwinden, und Karlsruhe singt das Deutschlandlied; ein Bruch mit der im Grundgesetz festgeschriebenen Europafreundlichkeit, hieß es empört.

Dabei war das Urteil keine Wende, sondern richtete den Blick nach vorn. Dort allerdings war eher wenig zu erkennen. In Europas Gemeinschaft wurde stets der Weg als das eigentliche Ziel formuliert, ein Wachsen und Werden. Päpste und Politiker, die in Jahrtausenden denken, können sich damit arrangieren, für den mitgliedstaatlichen Normalbürger hatte sich der Nutzen dieser Beschreibung erschöpft. Weil Konturen eines vereinten Europa außer Sicht blieben, ließen die Richter nationale Landmarken wieder hervortreten.

Die Folgen von Lissabon

Die Lissabon-Entscheidung ermunterte dazu, nach dem Europa jenseits eingeübter Floskeln zu fragen. Natürlich war da der Gründungsmythos als Friedensgemeinschaft, die politische Kontinentalbildung, die Abkehr von Rivalität und Protektionismus durch den Wegfall von Staats- und Währungsgrenzen. Doch das erwünschte Räsonnement, die europäische Öffentlichkeit, blieb vage, die demokratische Legitimation ein schwer erklärbares Konstrukt. Europa verfügte weder über eine gemeinsame Sprache noch ein gemeinsames Volk.

Oben auf Deck, wo die Sonne schien und die Eliten auf ihrem Platz am Steuer die Aussicht genossen, interessierte das wenig. Nun ließ das Lissabon-Urteil Luft und Licht zu den Ermatteten im Bauch der Galeere. Eine menschlich und politisch sinnvolle Tat. Absicht war nicht, zum Nationalstaat zurückzurudern. Es sollte weitergehen auf dem europäischen Kurs, jetzt mit neuen Kräften.

Leider hatte die Aktion einen Nachteil. Indem die Richter die Frage nach den absoluten Grenzen der Verfassung aufwarfen, begaben sie sich in kritische Nähe zu den eigenen. Implizit erklärten sie sich zu möglichen Initiatoren einer Verfassungsneuschöpfung, zu Richtern über eine Revolution. Der unbeherrschbare Urknall der Staatswerdung wurde so zu einem Fall richtiger Rechtsanwendung herabdefiniert. Dabei ist es der vordringliche Job der Richter, die Verfassung auszulegen – nicht aber den Zeitpunkt zu bestimmen, wann es eine neue braucht. Das ist Sache des Volkes und seiner Vertreter. Nun agieren die Richter mit jedem Euro-Urteil vor der imposanten Kulisse einer Volksabstimmung; den einen flößt das Angst ein, den anderen spendet es Hoffnung. Aber ist das der richtige Hintergrund, um mitten in der Krise Euro-Notbehelfe in die Verfassung einzupassen?

Karlsruhe hat beachtliche Textberge zum Thema angehäuft. Darin ist die Rede von substanziellen Befugnissen, die dem Bundestag verbleiben müssen, von Budgetverantwortung, schädlichen Automatismen der Kompetenzabgabe, den Lücken parlamentarischer Legitimation. Das berühmt gewordene Diktum des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, der Verfassungsrahmen für die EU-Integration sei fast ausgeschöpft, wird man in diese Fülle von Obersätzen hineinrechnen dürfen. Signalisiert wird eine Bis-hierher-und- nicht-weiter-Haltung mit ciceronischer Geste: Wie lange noch, Politiker, werdet ihr unsere Geduld missbrauchen?

Ist das Recht? Oder ist es Rhetorik? Der Pomp mancher Großformeln kann die Einsicht nicht überdecken, dass jeder Schritt in ein geeintes Europa ein anderer sein kann; wo es kein Ziel gibt, gibt es auch keine Linearität. Entsprechend schwer ist es zu sagen: Jetzt seid ihr zu weit gegangen. Jeder Fall hat seine Eigenart, seine politischen Umstände. Wer behauptet, er kenne das einzig richtige und überzeitlich gültige Maß, hat auch nicht mehr als eine Meinung im Streit der vielen.

Beim ESM werden die Richter prüfen, ob die vereinbarte Haftungsschranke stabil genug ist, um dem Parlament seine Budgethoheit zu sichern. Beim EFSF hatte man immerhin Kreditgewährleistungen von knapp 148 Milliarden Euro abgesegnet. Nachsteuern könnten die Richter an der Rückkoppelung des deutschen Vertreters im ESM, der haushaltswirksame Entscheidungen nur mit Mandat des Bundestags treffen soll. Der Fiskalpakt schließlich festigt und kontrolliert eine Stabilitätsgemeinschaft, deren Regime sich die EU-Mitgliedsstaaten längst unterworfen hatten.

Selbstverständlich verliert die Bundesrepublik zumindest durch einen der beiden Akte weiter an Souveränität. Das tut sie, seit es die EU gibt. Aber sie muss einiges zurückbekommen haben, sonst wäre sie heute nicht als wirtschaftlich und wohl auch politisch stärkste Macht in Europa souveräner denn je. Souverän kann vieles sein; übrigens auch, gemeinsam eine Krise zu meistern.

Das Bedürfnis nach apolitischer Reinlichkeit und Marktferne hatte in Karlsruhe schon immer eine Heimstatt. Nun, seit das Gericht mit seinen Euro-Urteilen das Volk mit offenen Armen empfängt, strömen sie zu Zehntausenden heran, die Unzufriedenen und Unerhörten. So groß die Sympathien für sie sind, es sollte nicht vergessen werden, dass sie allesamt die Verlierer einer nach demokratischen Regeln geführten Auseinandersetzung sind. Dass man trefflich darüber streiten kann, ob ein Urteil von Richtern den Volkswillen besser repräsentiert als eine Abstimmung im Parlament. Dass die schiere Masse an Klägern im Ringen um das Recht kein einziges Argument ersetzt.

Karlsruhe wird in dieser Woche im Zentrum Europas stehen und im Zenit seiner Beliebtheit bei den Deutschen. Das Gericht wird aus allen Richtungen bedrängt von Wünschen, Erwartungen, Sehnsüchten. Es wird verehrt und lässt sich feiern. Das könnte für alle ein guter Zeitpunkt sein, um wieder auf Distanz zu gehen. Richter soll man achten. Lieben muss man sie nicht.

Der Autor ist rechtspolitischer Korrespondent des Tagesspiegels und lehrt Rechtskommunikation an der Freien Universität Berlin.

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