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Meinung: CDU-Kanzlerkandidat: Unter Scheinriesen

Es gibt Merksätze im politischen Geschäft, die führen schnurstracks in die Irre. "Kanzlerkandidaten darf man nicht zu früh benennen, weil sie sonst vor dem Wahltermin verschlissen werden" - schon recht.

Von Robert Birnbaum

Es gibt Merksätze im politischen Geschäft, die führen schnurstracks in die Irre. "Kanzlerkandidaten darf man nicht zu früh benennen, weil sie sonst vor dem Wahltermin verschlissen werden" - schon recht. Nur kann man Kandidaten genau so gut verschleißen, bevor sie überhaupt antreten. Die Union führt das gerade vor. Das Ergebnis scheint klar. Angela Merkel ist abgemeldet; nach dem Berliner Desaster mit Wolfgang Schäuble mehr denn je. Edmund Stoiber wird allseits zum Sieger ausgerufen.

Schon fängt das Kränzeflechten an. Stoiber, der Erfolgreiche, Stoiber, der Wirtschaftslenker, Stoiber, der Parteiführer, Stoiber, der Mann mit dem inneren Kompass. Man reibt sich die Augen. Warum sind wir nicht alle längst darauf gekommen, dass der CSU-Chef der einzig wahre Kandidat ist?

Tja, warum wohl? Die Antwort steht in einem Kinderbuch. Der "Jim Knopf"-Autor Michael Ende hat Herrn Tur Tur erfunden. Der ist ein Scheinriese. Aus der Ferne wirkt er gewaltig groß. Doch wenn man ihm näher kommt, schrumpft er. Nähern wir uns also versuchsweise dem Kandidaten Stoiber.

Wir sehen da den Ministerpräsidenten eines Musterlandes, unbestritten in seiner vielfältigen Fachkompetenz. Das bayerische Wunder verdankt sich freilich auch einer beispiellosen Ein-Parteien-Herrschaft. Der CSU Wunsch, mithin Stoibers Wunsch, ist dort Befehl. Aber Berlin ist nicht München. Die CDU ist auch nicht die CSU - weder so leicht zu führen, noch gar automatisch solidarisch mit einem Bayern an der Spitze.

Weiter: Stoiber spricht vielen in der Union aus dem Herzen. Sogar wenn er plötzlich für Zuwanderung ist und Tageskrippen für die Kinder nicht mehr zum kommunistischen Agitpropinstrument gegen die Familie erklärt. Radikale Schwenks nimmt das eigene Publikum nicht übel, oft nicht einmal richtig wahr, weil Stoiber jeder Abweichlerei vom Konservativen unverdächtig ist.

Aber die Mobilisierung dieser Traditionskompanien allein reicht nicht für den Sieg. Stoiber müsste mindestens Teile der liberalen Mitte gewinnen. Er dürfte genau den Immer-feste-druff-Wahlkampf nicht führen, der ihm jubelnde Anhänger beschert. Er müsste gegen die Urteile und Vorurteile angehen, die sich leicht zur Gegenkampagne ummünzen lassen: Stoiber, der unsympathische Pedant, der Ideologe im Schafspelz. Er müsste sich als pragmatischer Macher profilieren. Er müsste unschärfer werden.

Diese Serie lässt sich fortsetzen. In der Summe ergibt sie, was die Union im Grunde weiß. Merkel mag die Falsche sein. Deswegen ist Stoiber noch lange nicht der Richtige. Er wirkt heute in der Kleinkunstbühne der Union als Gigant. Dabei ist er gar nicht gewachsen. Merkel verliert nur stetig an Statur - auch sie in manchem eine Scheinriesin.

Draußen auf der großen Bühne aber werden ganz andere Maßstäbe angelegt. Da wartet der Heldentenor Gerhard Schröder. An dieser Verwechslung der Spielstätten krankt die Kandidatendebatte. Sie kreist um die falsche Frage. Es geht nicht darum, ob Stoiber Merkel aussticht oder umgekehrt. Es geht darum, von wem eine größere Zahl von Bürgern lieber regiert würde.

Aus dieser Perspektive relativiert sich die Bedeutung der Stärken und Schwächen der Kandidaten-Kandidaten. Dass Merkel als Parteichefin mehr als umstritten ist und Stoiber nicht, spricht prima vista für den Bayern. Nur: Wäre es 1998 in der SPD nach dem Stärksten gegangen, hätte Lafontaine kandidiert. Es wurde Schröder, ein Leichtfuss, den Parteisoldaten zum Graus.

CDU und CSU hilft das im Moment nicht weiter, weil Schröder und Lafontaine fast gleich stark waren. Die Union sollte jedoch mit der Möglichkeit rechnen, dass die Binnen-Perspektive zu eng ist. Es geht nicht um den Vereinsvorsitz der CDU/CSU e.V. Es geht darum, wer Schröder - nun ja, vielleicht nicht schlagen, aber ihm den Sieg schwerer machen kann. Die Antwort auf diese Frage lohnt einen zweiten Blick. Auch auf die taktische Aufstellung. Wenn es nämlich so weitergeht, fällt Stoiber die Kandidatur zu, ohne dass er mehr dafür tun muss als - nichts. Aber genau das ist der Posten dann auch nur noch wert: eine Lizenz zum Verlieren.

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