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Meinung: Chaiselongue auf Rädern

Pascale Hugues, Le Point

Paris mit dem Fahrrad zu durchqueren ist ein selbstmörderisches Unterfangen. Und ich hatte niemals in meinem Leben so viel Angst wie damals, als ich auf dem Rücksitz eines Tandems während der Rushhour den Trafalgar Square überquerte. Berlin dagegen: Mit seinen Fahrradwegen, mit seinen SBahn-Wagen, in denen sich am Wochenende Horden von Fahrradfahrern tummeln, und mit seinen Velo-Taxis, die dem Ku’damm einen Hauch von Kalkutta verleihen, ist Berlin das schönste Velodrom Europas. Die Berliner Fahrradfahrer genießen alle Privilegien und alle Rechte – eingeschlossen moralische Überlegenheit. Sie kämpfen gegen den ökologischen Kollaps unserer Metropolen.

„Wir sind auf der Autobahn!“, jubelt eine ekstatische Dame. Das war letzten Sonntag auf der Avus. 100000 Berliner, wie Grillwürstchen in Plastik-Capes gehüllt, strampelten durch den sintflutartigen Regen. Um nichts auf der Welt wollten sie die traditionelle „Sternfahrt“ verpassen. Vorbei das Jammern, keine Gesichter mehr auf halbmast. An einem Sonntag im Jahr schwingen sich die Berliner auf ihre Fahrräder und geben sich subversivem Frohsinn hin. Alles ist erlaubt: auf der Autobahn fahren, rote Ampeln ignorieren, ins Gebüsch pinkeln, aus Leibeskräften klingeln. „Ist das nicht herrlich?“, ruft mir ein bärtiger Herr zu, der an den Füßen wasserdichte Schlappen aus Mülltüten trägt. Ein Aufzug, den ich normalerweise für grotesk halten würde, aber ich ertappe mich dabei, ihn zu beneiden. Meine Sohlen fühlen sich an wie eiswassergetränkte Schwämme. Der Bärtige hofft, spontane Freundschaftsbande mit mir zu knüpfen. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, während eine Ladung Wasser meine Wirbelsäule entlangrinnt. Sogar die Bäume entlang der Avus sehen aus wie durchnässte Scheuertücher und bieten keinerlei Schutz.

„Ist schon ein Erlebnis, mal so richtig klatschnass zu werden, wa?“, sagt ein Vater zu seinem Sohn. „Meine kleine Wasserratte“, säuselt eine Mutter ihrem Baby zu, das auf dem Gepäckträger heult. Ich wünsche mir das Gleichgewichtsgefühl der alten italienischen Witwen in ihren schwarzen Strickjacken, die im Regen durch die schmalen Straßen der Toscana radeln, in der einen Hand einen Regenschirm, in der anderen den Lenker. Und ich segne die spießige Weisheit der englischen Rentnerpärchen, die sich Parkplätze mit Aussicht suchen, um im Auto ihre Gurken-Sandwiches zu verzehren.

„Wunderbares Seewetter“, ermutigt mich ein Herr auf der Nebenspur. Ich ignoriere die geschmacklose Provokation. Dieser militante Poet hat ein Spruchband an seinen Lenker gehängt: „Umwelt schützen, Rad benützen!“ Auf der rechten Spur überholt mich Hans-Christian Ströbele. Von Rudolf Scharping bis Angela Merkel – ist das Pedal in diesem Land nicht das wirkliche Geheimnis politischen Erfolgs? Es lebe das französische Volk, das den gesamten Juli vor dem Fernseher verbringt, die Tour die France schauend, mit einem Glas Pastis in der Hand. „Das Fahrrad ist doch das beste Fortbewegungsmittel“, predigt ein Herr in reifem Alter. Das merkwürdige Gestell, auf dem er sitzt, sieht aus wie eine Chaiselongue auf Rädern. Nach und nach überholen mich die surrealistischsten Konstruktionen: ein Karren mit zwei Pudeln unter einem Regenschirm; ein Baby in einer rollenden Gondel.

Am Montagmorgen stehe ich mit meinem Auto vor dem ICC im Stau. Als ich gerade dabei bin, die Nerven zu verlieren, erinnere ich mich an meine sonntägliche Expedition. Und sofort bin ich vollkommen entspannt. Ein dümmlicher Refrain kommt mir in den Sinn. Es ist das erste deutsche Lied, das ich in der Schule lernte, damals, als das Auto noch die unangefochtene Königin des Wirtschaftswunders war. Ich fange an zu singen, das Herz befriedigt, die Füße im Trockenen: „Autofahren ist so schön, widdewiddewitt bum bum, wir fahren durch die ganze Welt, widdewiddewitt bum bum!“

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