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Meinung: Chancen statt Schecks

Ein starker Staat misst sich nicht nur an der Höhe seiner Ausgaben, sondern daran, ob er das Geld seiner Bürger effizient einsetzt

Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.

Ferdinand Lassalle

Dass jeder kleine Furz in unserer Medien- und Debattenkultur sofort zu einem Heißluftballon aufgeblasen wird, verhindert, dass wir uns wirklich klar darüber werden, was jetzt in Deutschland getan werden muss und was überflüssig oder gar schädlich ist.

Stattdessen führen wir öffentliche und politische Auseinandersetzungen auf kleinstem Nenner, aber mit größtmöglicher Besessenheit. Ein bezeichnendes Beispiel hat der Berliner Historiker Paul Nolte in seinem neuen Buch aufgeführt: Im vergangenen Jahr musste man den Eindruck haben, die bundesdeutsche Gesellschaft bestehe ausschließlich aus Hartz-IV-Empfängern und „Heuschrecken“. Wo war der Rest? Nicht präsent. Ziemlich viele Politiker haben an diesem Gesellschaftsbild mitgemalt. Es hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

Eine Hoffnung, die ich in die Große Koalition setze, richtet sich auch auf einen anderen politischen Stil und eine politische Kultur der Wahrhaftigkeit. Dass wir endlich auf Politrituale verzichten, die mit dafür verantwortlich sind, dass sich viele Menschen von der Politik abwenden. Wir lenken uns häufig ab mit drittrangigen Fragen und weichen zentralen Fragen aus, weil sie das Risiko unpopulärer Folgerungen bergen.

Was kann und was muss der Staat leisten, was darf er sich leisten, und vor allem: Wer ist auf ihn angewiesen, wer weniger? Darauf gibt es keine schlichte Antwort. Wichtig ist mir: Ich will keinen „Nachtwächterstaat“, sondern einen handlungsfähigen Staat. Einen Staat, der öffentliche Leistungen für die Bürger erbringen kann und dafür auch die notwendige finanzielle Ausstattung erhält, der Spielregeln für das gesellschaftliche Zusammenspiel setzt und Solidarität organisiert, damit unsere Gesellschaft nicht auseinander fliegt. Aber: Was sind heutzutage die Aufgaben des Staates?

Die wichtigste Aufgabe des Staates ist es heute, jedem Bürger zu ermöglichen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, seine Fähigkeiten zu entfalten und seine Existenz aus eigener Kraft zu sichern. Dazu müssen die Leistungen des Staates strikt an ihre Wirkungen gebunden werden: Was aktivierend wirkt, muss bleiben und kann sogar ausgebaut werden, wenn zugleich all das abgebaut wird, was zu Passivität und übertriebener Anspruchshaltung führt.

In einem modernen, handlungsfähigen Staat ist der Finanzminister kein eiserner Steuereintreiber und Kassenverwalter, sondern der erste Treuhänder der Steuerbürger, der dafür verantwortlich ist, dass das Steuergeld so zielgenau und wirkungsvoll wie möglich eingesetzt wird, der die faire Verteilung der Chancen und Möglichkeiten gewährleistet und der dafür sorgt, dass jeder nach seiner Fähigkeit und Stärke zum Wohl des Ganzen beiträgt.

Dazu gehört auch, Steuermissbrauch zu Lasten unserer Gesellschaft konsequent zu bekämpfen; dazu gehört auch, Subventionen für wenige zu streichen, die (fast) alle mitbezahlen müssen und die volkwirtschaftlich sinnlos bis kontraproduktiv sind. Das muss man dann auch durchhalten, etwa gegen das Heer der Lobbyisten. Was hat es zum Beispiel für einen Aufschrei gegen die Streichung der Eigenheimzulage gegeben? Was passiert real? Die Bau- und Immobilienpreise sinken, örtlich sogar sehr deutlich. Niemand, der jemals auch nur in die Nähe eigener vier Wände kommt oder kommen will, muss von nun an für diesen steuersubventionierten Traum anderer – oft Wohlhabenderer – durch höhere Abgaben mitbezahlen.

Soziale Gerechtigkeit wird in Deutschland immer noch mit der Höhe der Sozialtransfers gleichgesetzt. Sozialtransfers allein schaffen aber keine soziale Gerechtigkeit. Wir könnten die Mittel für Arbeitsmarktpolitik verdoppeln und würden trotzdem von der hohen Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht herunterkommen. Wir könnten die Mittel für Sozialhilfe deutlich aufstocken und würden trotzdem die „Vererbung der Armut“ nicht unterbinden.

Die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats, noch weniger das Maß an sozialer Gerechtigkeit, bemisst sich an den Ausgaben des Staates. Fakt ist: Bei den Sozialausgaben liegen wir europaweit an der Spitze; bei den Ausgaben, die Chancengerechtigkeit fördern, sind wir nicht erfolgreich.

Chancengerechtigkeit verlangt den gleichen Zugang aller zu den Leistungsangeboten des Staates. Um Armut und daraus resultierende soziale Kosten zu vermeiden, muss das Vorsorgeprinzip stärker zur Geltung gebracht werden. Das Maß für die Wirksamkeit einer modernen Sozialpolitik ist, dass wir den Menschen helfen, bevor sie ihren Job verlieren, bevor sie in der Schule scheitern und bevor sie ihren Ausbildungsplatz verlieren. Wir müssen die Ursachen bekämpfen, anstatt mit hohem Aufwand an Symptomen herumzudoktern: Das ist hilflos und teuer. Das auszusprechen, heißt nicht, persönliche Schicksale auf Kosten-Nutzen-Rechnungen zu reduzieren. Soziale Kälte entsteht nicht durch Ideen, sondern durch reelles Verschweigen, durch Ignoranz, Wegsehen, Gleichgültigkeit.

Das System der sozialen, bedarfsgerechten Sicherung muss so ausgestaltet werden, dass es wirksam vor Armut schützt, aber gleichzeitig Anreize bietet, neue Arbeit aufzunehmen. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass jeder das in seinen Kräften Stehende tut, um auf Leistungen der Allgemeinheit nicht angewiesen zu sein. Chancengerechtigkeit sollte Grundprinzip eines modernen Sozialstaates sein, während wir Ergebnisgleichheit nicht garantieren können und auch nicht sollten.

Wir brauchen mehr Chancengerechtigkeit, um die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu bändigen: zwischen armen und reichen Stadtteilen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten.

Chancenreiche und Chancenarme, ja, Chancenlose – das sind die beiden großen sozialen Pole, um die wir kreisen. Ich warne davor, diese Fliehkräfte zu unterschätzen. Das wäre mit hohen sozialen Kosten verbunden, finanziell wie gesellschaftlich. Um zu sehen, von welchen Kosten ich spreche, reicht schon ein Blick auf die brennenden Viertel von Paris.

Um solche Fliehkräfte präventiv einzudämmen, reichen weder „die Kräfte des Marktes“ noch „Deregulierung“. Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat. Keinen fetten oder erdrückenden, aber einen leistungsfähigen Staat – und der hat seinen Preis. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir nicht einen zu hohen Preis für eine zu geringe Wirkung zahlen. Und wir müssen aus unseren Antworten endlich Konsequenzen ziehen.

Für die klarere Aufgabenteilung zwischen Gesellschaft und Staat und für die Neujustierung der Gewichte zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität brauchen wir ein Ordnungsprinzip. Ich bin vom Subsidiaritätsprinzip überzeugt. Das heißt nicht, dass der Staat sich von seiner sozialen Verantwortung verabschiedet. Im Gegenteil: Er wird ihr nur dann weiter und besser als bislang gerecht werden können, wenn er die Gesellschaft als Ganzes sieht und nicht nur ihre atomisierten Teile „behandelt“. Und wenn er sich auf Kernaufgaben und Zukunftsaufgaben konzentriert. Und genau das ist der Punkt.

Wir leisten uns im internationalen Vergleich das wohl teuerste (und bürokratischste!) Bildungssystem. Nur, das bestätigt uns Pisa immer wieder, sagt die Höhe der Bildungsausgaben nichts über die Qualität und die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems aus. Nicht nur, dass wir das Ziel, die besten Bildungschancen gerade für Kinder aus sozial schwächer gestellten Milieus zu erreichen, verfehlt haben: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die soziale Herkunft von so entscheidender Bedeutung für die Bildungs- und damit für Berufs- und Aufstiegschancen wie heute. Maximaler Geldeinsatz für minimale Effekte – das ist ein denkbar schlechtes Geschäft, für den Staat, mehr noch aber für unsere Gesellschaft.

Haben wir uns daran nicht längst gewöhnt, ebenso wie an verrottende Schulgebäude oder mangelhaft ausgestattete Kindergärten, von der Unterversorgung mit Kita-Plätzen gerade in Großstädten ganz zu schweigen? Was muss sich ein Kind denken, das in einen (baulich) verrotteten Kindergarten oder in eine Schule gehen muss, in die es hineinregnet oder in der die Geschichtsbücher 30 Jahre alt sind? Deutlicher kann man es doch weder ihm noch den Eltern machen, wie nebensächlich es der Gesellschaft oder „dem Staat“ ist, unter welchen Umständen Kinder ins Leben starten. Aber gleichzeitig wird hier zu Lande über niedrige Geburtenraten geklagt!

Das Kindergeld ist nur ein Beispiel. Die gut verdienenden Schichten brauchen es nicht wirklich (aber auch sie brauchen Kindergärten!), um ihren Alltag erfolgreich zu meistern. Auf der anderen Seite der Einkommensskala bekommen wir es mit geradezu existenziellen Problemen zu tun. Von Erzieherinnen und Lehrerinnen hören wir immer öfter, dass Kinder aus Schichten mit geringem Einkommen immer öfter hungrig in die Kindergärten und Schulen kommen, auch, weil sich zu Hause niemand um sie kümmert. Ausnahmefälle? Ich hoffe: ja, fürchte aber: nein. Und ich fürchte: Wir haben uns auch daran längst gewöhnt, auch im naiven Vertrauen darauf, der Staat könne jede soziale Fehlentwicklung kurieren. Das kann er nicht. Auch hier gilt: Wir könnten das Kindergeld verdoppeln und es würden nicht mehr Kinder geboren; wir könnten aber auch die Zahl der Kinderbetreuungsplätze verdoppeln, um echte Fortschritte zu erzielen.

Ich bin sicher: Wenn junge Menschen entscheiden könnten, sie würden sich für einen Kitaplatz, für eine Schule ohne Unterrichtsausfall oder für kostenlose Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag durch qualifizierte Lehrer entscheiden und mögliche Einbußen oder geringere Steigerungen beim Kindergeld in Kauf nehmen. Hier zu Lande lösen fünf Euro mehr oder weniger Kindergeld eine Debatte aus, als ginge es um eklatante Verletzungen der Menschenrechte. Über 80 Mark mehr Kindergeld seit 1998 hatte übrigens kaum jemand geredet – nachdem es da war!

Ein Staat darf sich davon nicht einschüchtern lassen. Wer pauschal und ohne Wirkungskontrolle Geld verteilt, weiß nie, wo das Geld wirklich landet. Der Staat muss aber dafür sorgen, dass es zielgerichtet dort eingesetzt wird, wo es die größte Wirkung entfaltet. Ein Staat, der auf Kontrolle und Intervention verzichtet, macht sich selber schwach, anstatt für die Schwachen stark zu sein.

Peer Steinbrück

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