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China: Reich ohne Mitte

Ein Mord und ein flüchtender Blinder: Zwei spektakuläre Fälle zeigen, dass sich in China gerade die Reformer durchsetzen.

Chen Guangcheng kannte China nicht mehr so gut. 18 Monate lang hatte sich der blinde chinesische Bürgerrechtler in einem kleinen ummauerten Haus aufhalten müssen, abgeschnitten von der Außenwelt. Computer, Handy, Videokamera haben ihm seine Bewacher abgenommen, bis zu 100 Personen wechselten sich in drei Schichten bei seiner Bewachung ab. Wenn er nach draußen wollte, wurde er geschlagen, wer ihn besuchen wollte, wurde mit Steinwürfen und Knüppeln verjagt.

Chen Guangcheng dachte, die korrupten Offiziellen seines Heimatortes seien schuld an diesem Zustand, jene Parteikader der Provinz Shandong, denen er durch sein Eintreten für die Rechte von Opfern illegaler Zwangsabtreibungen viel Ärger eingehandelt hat. Er appellierte deshalb nach seiner Flucht in die US-Botschaft an Chinas Premierminister Wen Jiabao, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Danach wollte er mit seiner Familie an einem „sicheren Ort“ in China bleiben, um im Land Veränderung zu bewirken.

Doch es gibt im China des Jahres 2012 keinen sicheren Ort.

Der blinde Menschenrechtsaktivist benötigte nur wenige Stunden außerhalb der US-Botschaft, um das zu verstehen. Beamte der Staatssicherheit, die zunächst verhinderten, dass er von Freunden, amerikanischen Diplomaten oder Journalisten besucht wird, haben ein Übriges getan. Chen Guangcheng geriet in Panik, fürchtete um sein Leben und um seine Familie – und verlangte plötzlich seine sofortige Ausreise.

Viele Chinesen wissen um ihre Rechtsunsicherheit in der Heimat. Sogar der mächtige Polizeichef von Chongqing musste im Februar in den Schutz des US-Konsulats vor den Sicherheitskräften seines Vorgesetzten Bo Xilai flüchten. In der Folge entbrannte die Chongqing-Affäre, über die Bo Xilai stürzte, der bis dahin als aussichtsreicher Anwärter auf einen der neun Posten im Ständigen Ausschuss des Politbüros galt. Einige Internetnutzer fordern nun, mehr amerikanische Botschaften und Konsulate in China zu bauen – zum Schutze chinesischer Bürger. Ein bitterer Scherz. Doch die beiden spektakulären Fälle zeigen mehr als nur die Furcht der Chinesen vor der Willkür ihres Staates.

Sie illustrieren, wie groß die Macht der Provinzfürsten und wie gering der Einfluss der Zentralregierung ist. Im Falle von Bo Xilai, dem gestürzten Parteichef der provinzähnlichen Stadt Chongqing, ist das offensichtlich. Der ehrgeizige und charismatische Sohn eines der acht Ältesten der Kommunistischen Partei Chinas hatte die Millionenstadt im Westen in ein Testgebiet für konservative linke Politik verwandelt, um seine eigene Karriere zu befördern. Dem reformorientierten Lager in der Kommunistischen Partei missfiel dieser Weg, allen voran Premierminister Wen Jiabao. Das machte er deutlich, als er im März öffentlich vor einem Rückfall in die unseligen Methoden der Kulturrevolution warnte.

Doch auch der Premierminister benötigte erst den Mordverdacht gegen Bo Xilais Frau, um ihn zu Fall zu bringen. Inzwischen wird bekannt – oder das rivalisierende Lager lässt es bekannt machen –, wie skrupellos der Parteichef in Chongqing geherrscht haben soll. Foltermethoden werden ihm vorgeworfen, sein Sicherheitsapparat soll sogar Telefongespräche des Staatspräsidenten Hu Jintao heimlich abgehört haben.

Im Falle des blinden Menschenrechtsanwaltes verhält es sich ähnlich. Er ist ein Opfer der willkürlichen Allmacht lokaler Behörden, die Zentralregierung wollte oder konnte sich in deren offensichtliche Verstöße gegen chinesische Gesetze nicht einmischen. Dabei ist Chen Guangcheng kein intellektueller Dissident, der dem Staat gefährlich werden könnte, weil er wie der inhaftierte Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo mit der Charta 08 nach Demokratie verlangt. Er ist ein einfacher Dorfbewohner, der sich seine Rechtskenntnisse selbst beigebracht hat. Er kämpfte auf lokaler Ebene für die Opfer von illegalen Zwangsabtreibungen. Erst Verfolgung und Misshandlungen haben ihn in Chinas interessierten Kreisen sowie international so bekannt gemacht, dass die Provinz Shandong nach Chens Auskunft 7,2 Millionen Euro ausgab, um ihn im Hausarrest festzusetzen. Vor allem aber, um Besucher von ihm fernzuhalten.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die lokalen Behörden mindestens mit der Billigung der Zentralregierung gehandelt haben. Die Fälle Chen Guangcheng und Bo Xilai zeigen jedoch auch den aktuellen Macht- und Richtungskampf. innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas. Die Reformkräfte setzen auf demokratischere Entwicklungen, wie mehr Rechtsstaatlichkeit und weniger Einfluss des Staates. Die konservativen Linken wollen einen starken Staat.

Solche Kämpfe hat es in der 63-jährigen Geschichte der Volksrepublik immer wieder gegeben, doch am Ende bestimmten bislang der Große Vorsitzende Mao Zedong oder Deng Xiaoping die Richtung. Beim 18. Parteitag der KP im Herbst 2012 wird hingegen erstmals eine Parteiführung gesucht, die nicht wie noch 2002 von Deng Xiaoping in die Wege geleitet worden ist. Umso heftiger ist nun der Kampf der Politbüromitglieder um die sieben neu zu besetzenden Positionen im Ständigen Ausschuss entbrannt.

Im Falle Bo Xilais haben die konservativen linken Kräfte in der Partei den Kürzeren gezogen. Dazu zählt auch Bos Unterstützer, der mächtige Chef des Sicherheitsapparates, Zhou Yongkang. Einige Beobachter haben spekuliert, dass auch er im Zuge der politischen Aufräumarbeiten nach der Affäre gehen müsse. Internetnutzer trauten ihm unlängst sogar einen Militärputsch im Regierungsviertel zu und verbreiteten entsprechende Gerüchte. Doch sein Einfluss ist weiterhin groß. Das zeigt allein das Budget, über das sein Ressort zur „Stabilitätsbewahrung“ verfügt: 85 Milliarden Euro. Das gesamte Militärbudget beträgt mit 81 Milliarden Euro weniger, offiziell zumindest.

Im dramatischen Gerangel um Chen Guangcheng in der vergangenen Woche drückt sich ebenfalls Chinas Machtkampf aus. Die linken Hardliner sehen seine Flucht als eine von den USA inszenierte Verschwörung an. Ihre Stunde schlug, als der blinde Bürgerrechtler den Schutz der US-Botschaft verließ und in ihre Zuständigkeit geriet. Offenbar hatten die US-Diplomaten die Macht des Sicherheitsapparates unterschätzt. Sie hatten geglaubt, es reiche aus, mit dem chinesischen Außenministerium eine Abmachung über seine Sicherheit zu treffen. Doch diesem Ministerium fehlt es an Einfluss, derart wichtige Themen werden von der Partei entschieden. Und die steht über der Regierung.

Das Außenministerium ist im 24-köpfigen Politbüro der Partei nicht vertreten – im Gegensatz zum Büro für Öffentliche Sicherheit und dem Ministerium für Staatssicherheit. Beiden Behörden steht Zhou Yongkang vor, der als Nummer neun in der Hierarchie des Einparteienstaates gilt. Die sich nun abzeichnende Lösung für Chen Guangcheng, eine Ausreise zum Studium in die USA, kam erst zustande, nachdem die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton mit Staatspräsident Hu Jintao verhandelt hat. Und der ist die Nummer eins in der Partei.

Sollte dem blinden Bürgerrechtler die Ausreise tatsächlich ermöglicht werden, dürfte das gut den aktuellen Stand im Machtkampf ausdrücken: Die konservativen linken Hardliner um Sicherheitschef Zhou Yangkang verlieren – die Reformer gewinnen die Oberhand.

In der Wirtschaftspolitik ist ihnen das bereits gelungen. China ist zur zweitgrößten Volkswirtschaft und zur größten Exportnation der Welt aufgestiegen, doch die Verantwortlichen haben erkannt, dass ein fortgesetztes unkontrolliertes Wachstum das Land auch schädigt. Umweltprobleme, die riesigen Unterschiede zwischen Arm und Reich, eine Immobilienblase, die hohe Inflation zählen zu den Nachteilen. Der aktuelle Fünfjahresplan schreibt deshalb bereits ein geringeres, aber nachhaltigeres Wachstum vor. Das Land soll wegkommen von seiner Exportabhängigkeit, stattdessen soll der Binnenkonsum angekurbelt werden. Es soll sich von der Werkstatt der Welt in eine Hightech-Fabrik wandeln. Doch über die Umsetzung streiten sich die rivalisierenden Lager. Das anhaltende hohe Wachstum verleiht der Kommunistischen Partei ihre größte Legitimation. Sollte die Wirtschaft schwächeln, drohen Arbeitslosigkeit und Massenproteste – die der Einparteienherrschaft gefährlich werden könnten.

Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Reformer im Wirtschaftsbereich noch am sichtbarsten durchsetzen konnten. Die Regulierung des Immobilienmarktes, die schrittweise Anpassung der chinesischen Währung und vor allem das Wenzhou-Experiment drücken das aus: In der Neunmillionenstadt an der Ostküste, die für die Geschäftstüchtigkeit ihrer Einwohner bekannt ist, hat die chinesische Regierung das bisher verbotene private Schattenbanksystem legalisiert, das auch an mittlere und kleine Unternehmen Kredite vergibt. Sollte sich das neue System bewähren, könnte es in ganz China übernommen werden. Premierminister Wen Jiabao hatte zuletzt an einem Bericht der Weltbank mitgewirkt, der zahlreiche weitere Reformen fordert.

Der wirtschaftliche Erfolg und das Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ haben hingegen die Politik erstarren lassen. Einzig Premierminister Wen Jiabao hat wiederholt nach politischen Reformen verlangt – und nichts umgesetzt. Ein Zeichen von mangelndem Einfluss. Vor zwei Jahren wurde sogar eine Reformrede von ihm von den staatlichen Medien ignoriert, weil sie nicht von der mächtigen konservativen Propagandaabteilung freigegeben wurde.

Dabei gibt es genügend Bedarf für politische Veränderungen. Es gilt, die Folgen der Einkindpolitik zu überdenken, bei der die chinesische Bevölkerung früher alt wird, bevor sie wohlhabend wird. Im Jahr 2050 wird die Hälfte der chinesischen Bevölkerung über 50 Jahre alt sein, ein Viertel sogar über 65 Jahre. Weil die Rentenversorgung für viele alte Chinesen nicht ausreicht, wird der Nachwuchs dafür aufkommen müssen. Auch müsste das Wohnsitzmeldesystem, das 300 Millionen Wanderarbeiter in den Städten zu Menschen zweiter Klasse degradiert, überarbeitet werden. Eine Landreform müsste den Bauern mehr Eigentumsrechte für ihr Land geben – würde aber auf der anderen Seite die Verdienstmöglichkeiten der örtlichen Parteikader beschneiden.

Was möglich ist, wenn sich Reformkräfte durchsetzen, haben die Ereignisse in Wukan in der südlichen Provinz Guangdong gezeigt. Der dortige Parteichef Wang Yang gilt als Reformer und beim Parteitag im Herbst als aussichtsreicher Kandidat für die Aufnahme in den Ständigen Ausschuss. Wukan wurde nach Protesten der Bewohner gegen illegale Landverkäufe von mehreren tausend Sicherheitskräften umzingelt und von der Außenwelt abgeschnitten, ein Führer der Demonstranten starb im Polizeigewahrsam. Man musste das Schlimmste befürchten. Doch dann schloss die Provinzregierung mit den Demonstranten einen überraschenden Kompromiss. Die Provinz garantierte Wukan Selbstbestimmung. In einer freien und geheimen Wahl wurde der Anführer der Proteste zum neuen Ortsvorsteher gewählt – und der alte nach 42 Jahren abgesetzt.

Reformkräfte wie Wang Yang wollen China nicht die Demokratie bringen. Aber sie haben erkannt, dass politische Fortschritte der Bevölkerung wieder mehr Vertrauen in das eigene System geben können. Denn fehlende Glaubwürdigkeit ist das größte Problem der herrschenden politischen Klasse. Diese steht nicht nur wegen der Affäre um Bo Xilai, dessen Frau angeblich illegale Gelder ins Ausland schaffen wollte, unter permanentem Korruptionsverdacht. Bezeichnend für die fehlende Glaubwürdigkeit des Systems ist auch ein Beitrag des staatlich zensierten Fernsehsenders „CCTV“, der einen Skandal aufdecken wollte: Ein Pekinger McDonald’s-Restaurant verkaufte Hamburger, deren Verfallsdatum abgelaufen war. Die Empörung in der Bevölkerung hielt sich nach der Sendung allerdings in Grenzen. Stattdessen gründete sich im Internet eine Gruppe unter dem Motto: „Ich vertraue McDonald’s mehr als CCTV.“

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