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Darüber spricht die ganze …: …Türkei

Bisher kannten die Türken ihren Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk nur als eiskalten Strategen, visionären Staatsmann und strengen Vater der Nation. Thomas Seibert über einen Film, in dem ein Gott zum Menschen wird

Bisher kannten die Türken ihren Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk nur als eiskalten Strategen, visionären Staatsmann und strengen Vater der Nation. Doch nun zeigt ein neuer Dokumentarfilm den „Vater der Türken“ in einem ganz neuen Licht. In „Mustafa“ ist Atatürk ein einsamer Mann, der sich vor der Dunkelheit fürchtet, er ist ein Trinker und ein Kettenraucher.

Fast 800 000 Zuschauer sahen „Mustafa“ in nur zwölf Tagen – ein beachtlicher Erfolg. Der Journalist und Filmemacher Can Dündar zeichnet Atatürks Leben von seiner Geburt 1881 bis zu seinem Tod am 10. November 1938 nach. Die meisten türkischen Filme über Atatürk zementieren das Bild vom unerschütterlichen Visionär. „Mustafa“ löst leidenschaftliche Debatten aus, weil er einen anderen Atatürk zeigt. Dündar präsentiert einen Mann, der nicht nur die Türkei gründet und die Türken auf Westkurs setzt, sondern der auch jeden Tag reichlich dem Nationalschnaps Raki zuspricht. Bei Dündar ist Atatürk plötzlich ein Mensch.

Für manche Kemalisten, die erzsäkularen Anhänger Atatürks, grenzt das an Gotteslästerung und Hochverrat. „Die Kollaborateure des Imperialismus, die Gegner des Nationalstaates, die Schariah-Anhänger“ wollten die Republik zerstören, erklärte der kemalistische Verein für Atatürk’sches Gedankengut (ADD) zu Dündars Film. „Es wird ihnen nicht gelingen.“

Seit dem Regierungsantritt der religiös-konservativen AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor sechs Jahren befürchten Kemalisten, Atatürks Staat falle islamischen Fundamentalisten in die Hände. „Mustafa“ sei ein Teil dieser Kampagne, sagen sie. Ein kemalistischer Zeitungskolumnist rief seine Leser auf, den Film zu boykottieren. In der Türkei ist die Interpretationshoheit über Atatürk und dessen Lebenswerk von höchster politischer Bedeutung. Hohepriester des Kemalismus in Armee und Justiz haben in den vergangenen Jahren mit Hinweis auf Atatürk so manche Debatte abgewürgt. Türkische EU-Gegner warnen, die Europäer wollten Atatürks Staat vernichten. Von Atatürk leiten die Militärs ihre politische Wächterrolle ab.

Die Debatte über „Mustafa“ ist also mehr als nur eine Diskussion über einen Dokumentarfilm. Die Kemalisten wollten Atatürk zu einem Gott erklären, schrieb Ahmet Altan, Chefredakteur der unabhängigen und armeekritischen Zeitung „Taraf“. „Warum tun sie das? Weil Atatürk als Schild benutzt wird, um Fragen nach vielen Dingen abzuwehren, die in diesem Land schief, krumm und faul sind.“

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