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Meinung: Das AA-Syndrom

Sind Armut und Arbeitslosigkeit die Ursachen allen Übels? Von Henryk M. Broder

Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern allen möglichen Unsinn – zum Beispiel, dass Armut und Arbeitslosigkeit die entscheidenden Faktoren bei der Entstehung von Gewalt und Terror sind und dass man nur genug Geld aufbringen und ausgeben muss, um das Phänomen der Gewalt in den sozialtherapeutischen Griff zu bekommen und die „Ursachen des Terrors“ ein für alle Mal abzuschaffen.

Als noch viel Geld in den Kassen der Jugendämter war, da wurden auffällige Jugendliche zu Segeltörns in die Karibik geschickt, um dort soziales Verhalten in der Gemeinschaft zu lernen, Verantwortung für andere zu übernehmen und die eigenen Grenzen zu erkennen. Die meisten kamen zwar nicht geläutert, aber um die Erkenntnis reicher zurück, dass sie nur ein paar „Kanaken“ oder „Fidschis“ verhauen müssen, um wieder auf einen Segeltrip geschickt zu werden. Und es ist nur ein paar Tage her, dass der SPD-Politiker Gert Weisskirchen aus Anlass des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar die Bundesregierung aufgefordert hat, mehr Geld für den Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus bereitzustellen. Weisskirchens Forderung wurde im Rausch der Erinnerung so unwidersprochen hingenommen, als hätte er zu Beginn des Karnevals die Autofahrer aufgefordert, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren.

Wofür, bitte schön, soll das Geld im Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ausgegeben werden? Soll jeder brandenburgische Skinhead ein Buch mit Aufsätzen von Martin Buber geschenkt bekommen? Soll man die Antisemiten, die sich im Internet tummeln, zu Reisen nach Israel einladen, damit sie endlich von Zuhause wegkommen und sehen, dass Juden auch nur Menschen sind? Sollen Rassisten lernen, wie man Couscous und Humus zubereitet, um so ihre Ressentiments gegen „das Fremde“ zu überwinden?

Was für jugendliche Delinquenten gilt, von denen sich viele trotz ihrer Armut iPods, Everlast-Klamotten und teure Klappmesser leisten können, das gilt natürlich auch für Terroristen. Wären sie nicht arm dran und arbeitslos dazu, müssten sie sich nicht Sorgen um ihre Zukunft machen und wären immun gegen die Versuchungen des Terrorismus.

Es macht nichts, dass Illich Ramirez Sanchez, der unter seinem Nome de guerre „Carlos“ zum berühmtesten Terroristen der 70er und 80er Jahre avancierte, bevor er Ende 1997 von einem französischen Gericht zu lebenslänglich verurteilt wurde, kein armer Mann war und keine Not litt; es macht nichts, dass die Attentäter des 11. September 2001 ebenso wie ihre Kollegen aus Madrid und London keine Sozialhilfeempfänger, sondern Kinder des Mittelstandes waren. Es macht nichts, dass Osama bin Laden von Geburt an ein reicher Mann war, der einen Spleen pflegt. Die Mär, dass es eine funktionale und kausale Verbindung zwischen Armut auf der einen und Gewalt und Terror auf der anderen Seite gibt, ist noch langlebiger und noch zäher als die Geschichte vom Goldesel.

Nur die Mär, dass Arbeitslosigkeit zwangsläufig zu Fremdenfeindlichkeit führt, kann mit ihr mithalten. Der arbeitslose Brite geht angeln, der arbeitslose Holländer geht Billard spielen, der arbeitslose Italiener geht zu seiner Geliebten, nur der arbeitslose Deutsche geht Ausländer hauen – als ob es eine nationale genetische Fixierung gäbe.

Die gibt es natürlich nicht, was es aber gibt, das ist die Überzeugung, dass Geld zwar nicht immer glücklich, aber kein Geld immer so unglücklich macht, dass es Gewalttäter und Terroristen produziert.

Fragt sich nur, wer in diesem Spiel die arme Sau ist: der Gewalttäter oder derjenige, der ihn mit Geld zu kurieren versucht.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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