zum Hauptinhalt

Meinung: Das deutsche Fleisch bleibt schwach

Von Pascale Hugues, Le Point

Ein florierender Schwarzmarkt entsteht gerade in Berlin. Die Leute handeln mit ihren Bürgerrechten. Sie verscherbeln ihre Ausweise. Sie wechseln ihre Landesflagge, wie man im Sommer die Hemden wechselt. In dieser Stadt wimmelt es nur so von patriotischen Chamäleons.

Zum Beispiel meine französische Babysitterin: Sie will im Sommer per Anhalter durch England touren – und hat entschieden, sich dafür in eine Schweizerin zu verwandeln: „Die antierotische Nation par excellence“, erläutert sie mir, „als Schweizerin werde ich absolut keine Probleme haben.“ Eine redselige, sentimentale Freundin aus Russland spricht über ihren deutschen Pass wie über einen Lottogewinn: „Praktischer zum Reisen“, gesteht sie, „aber mein Herz bleibt russisch!“ Ich glaube ihr aufs Wort. Mein Schneider hat sich letzten Sonntag ein besonders hübsches Identitäts-Patchwork zusammengenäht: Er ist jetzt mazedonischer Türke. „Was bedeutet, dass ich Grieche bin!“, triumphiert er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Das gleiche Phänomen bei meinen Söhnen: In den letzten Wochen waren sie wechselweise Deutsche und Franzosen (in diesem einen Fall legitimiert das Blutrecht ihre Schizophrenie), fühlten sich dann eine Zeit lang portugiesisch bis in die Zehenspitzen, und nach einem kurzen Abstecher ins Tierreich – einen Nachmittag lang spielten sie Affe und Papagei – wachten sie am Montag als Griechen auf.

Und mit ihnen ganz Deutschland! Der neue Bundespräsident fleht seine Landsleute an, ihre Heimat zu lieben, und diese können gar nicht mehr damit aufhören, die Reflexion ihres Antlitzes im ägäischen Meer zu bewundern. Wen kümmern hellenische Muskeln? Entlang der Berliner Tresen weiß jeder: Dieser Sieg ist made in Germany. War es nicht Angelos Charisteas, der Deutschgrieche aus Bremen, dem das historische Tor gelang? Waren es nicht die guten alten preußischen Tugenden, der „Kampfgeist“ und die „Leistungsbereitschaft“ (so Rainer Brüderle, der in seinem Bundestagssessel sportlichen Neoliberalismus praktiziert), waren es nicht diese Qualitäten, die die Tänzer des „Sirtaki der Eitelkeiten“ (so die „BZ“), die dieses „Schafhirtenvolk“ (so eine portugiesische Freundin) zum Sieg führten? Dank „Gotto Rehakles“ (selbst die „Bild“ trumpft mit klassischer Bildung auf) genehmigt sich Deutschland ein patriotisches Stellvertreter-Hurra. Nichts, was politisch korrekter wäre.

Helmut Kohl hat es nicht geschafft, seine Landsleute aus dem „Freizeitpark“ aufzuscheuchen, in dem sie es sich so bequem gemacht haben. Gerhard Schröder redet sich den Mund fusselig, um sein „egoistisches“ Volk in Bewegung zu bringen. Aber wenn Horst Köhler von den Deutschen verlangt, den Gürtel wie gute Patrioten enger zu schnallen, dann sind sie gleich wieder da, die Trümmerfrauen der Nachkriegszeit mit ihren Kopftüchern und rissigen Händen. Ich persönlich bevorzuge Coco Chanel! Seit Wochen liegt man uns mit diesem Wir-sind-wieder-wer von Bern in den Ohren. Fragen Sie mal einen Franzosen, was er 1954 von den Deutschen hielt, und der ganze Gründermythos löst sich in Sekundenschnelle in Luft auf.

Gestern morgen, als ich in meinem feministischen, umweltbewussten und antinationalistischen Berliner Sportstudio unter der Dusche stand, hörte ich plötzlich eine wütende Stimme: „Ich hasse Deutschland!“ Die Pflegeversicherung, Hartz IV, die ganze Kaskade erduldeter Zumutungen vermischte sich mit dem heißen Duschwasser. „Eine Kalaschnikow! Das wünsche ich mir zu Weihnachten!“ Die Ahnung eines blutigen Komplotts lag in der Luft, wie eine stickige Dampfwolke. Und plötzlich war ich mir wieder ganz sicher, dass sich am psychischen Zustand dieses Landes absolut nichts geändert hat. Selbst für die neuen Griechendeutschen liegt ein „Wunder von Berlin“ noch in weiter Ferne.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false