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Meinung: Das Ende der Lebenslüge

Wir sehen die Bundeswehr als Aufbauhelfer, doch der Fall Kosovo zeigt: Das reicht nicht

Von Robert Birnbaum

Lebenslügen aufrechtzuerhalten ist anstrengend und kostspielig. Sinnlos ist es obendrein. Ein Anlass genügt, sie zerplatzen zu lassen. Der deutschen Kosovopolitik hat ein vergessener Toter den makabren Anlass geliefert. Der augenscheinlich obdachlose Dragan Nedeljkovic ist offenkundig in den Märzkrawallen in Prizren umgekommen, als die Albaner-Mehrheit unter den Augen deutscher Kfor-Soldaten Jagd auf die wenigen verbliebenen Serben machte. Die Bundeswehr vor Ort hat den Todesfall spät und beiläufig registriert und nicht in die Zählung aufgenommen, die für den deutschen Hoheitsbereich null Tote verzeichnete. Im Mai ging die Meldung zum Einsatzführungskommando in Potsdam, von dort zur Hardthöhe in Bonn – wo sie verscholl. Was den Minister zu dem peinlichen Eingeständnis zwang, dass er, weil ahnungslos, zu Unrecht jene stolze Zahl verbreitet hatte: null Tote. Falsch, es war einer. Also einer zu viel.

Seither sind jene drei Tage im März, in denen der ganze Kosovo brannte, wieder dem Vergessen entrissen. Die Frage nach Schuld und Versagen wird neu gestellt. Sie zu beantworten ist nicht einfach. Es ist aber notwendig. Denn die Antwort hat Folgen über den konkreten Fall hinaus.

Was also ist falsch gelaufen? Reden wir nicht von der löchrigen Meldekette – sie wäre der Rede nur wert, stünde Absicht dahinter. Reden wir nicht von den normalen Soldaten, die sich damals einer brandschatzenden Menge gegenübersahen. Sie haben im Chaos nach bestem Wissen getan, was sie konnten, und Menschen gerettet.

Zu reden sein wird von den höheren Ebenen. Der Eindruck ist schwer von der Hand zu weisen, dass die Truppe in Prizren tagelang ohne nennenswerte Hilfe von weiter oben blieb und auf sich gestellt improvisieren musste. Dafür mag es Gründe gegeben haben. Die gehören dann abgestellt. Aber all dies bewegt sich auf der technischen Ebene, in die auch Fragen der Ausrüstung und der Zusammensetzung der Kontingente fallen – mehr Indianer, weniger Häuptlinge.

Tatsächlich wirft der Fall Kosovo viel prinzipiellere Fragen auf. Womit wir bei den Lebenslügen wären. Die erste betrifft Rolle und Selbstverständnis der Bundeswehr im Auslandseinsatz. Wir haben uns angewöhnt, die Soldaten als eine Art bewaffnete Entwicklungshelfer zu sehen. Wir halten uns viel darauf zugute, dass unsere Staatsbürger in Uniform von Bosnien bis Kundus beliebt sind ob ihres zivilen Auftretens und ihrer Bereitschaft, sich auf fremde Kulturen einzulassen. Wir vergessen dabei nur zu gerne, dass sie überhaupt nur dort sind, weil militärische Gewalt das letzte Mittel war. Dies ist kein Plädoyer für mehr Rambo-Mentalität. Wohl aber dafür, den Einsatz stärker als prekären Ernstfall zu begreifen – und sein Scheitern für möglich zu halten. Wer die Niederlage nicht einkalkuliert, steht ratlos vor ihr.

Damit hängt die zweite Lebenslüge eng zusammen. Sie besagt, man könne gespaltene, von mittelalterlichen Clan- und Bandenstrukturen bestimmte Gesellschaften mit gutem Willen und begrenzten Mitteln zu friedlichen Demokratien wandeln. Auch hier zeigt der Fall Kosovo Grenzen auf. Die Umerziehung zur multiethnischen Gesellschaft funktioniert nicht. Wir können keine ethnischen Säuberungen dulden? Richtig. Aber wir konnten sie nicht verhindern. Der Tote von Prizren stellt uns vor ein moralisches Dilemma: Können wir den Preis rechtfertigen, den unsere Prinzipien fordern?

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