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Meinung: Das Geheimnis heißt Erinnerung Von Christoph von Marschall

Haben die Deutschen ein löchriges Gedächtnis? Jeder Fünfte will angeblich die Mauer wiederhaben – behauptet der „Stern“.

Haben die Deutschen ein löchriges Gedächtnis? Jeder Fünfte will angeblich die Mauer wiederhaben – behauptet der „Stern“. SED, leere Läden, Stasi, verweigerte Reisefreiheit: alles aus dem Gedächtnis gelöscht? Auch historische Daten scheinen allmählich ins Vergessen abzugleiten. Der 65. Jahrestag des Kriegsbeginns fand in den deutschen Medien so gut wie nicht statt. Die Politik hatte diesmal auch keinen Anlass zum Erinnern gegeben – bis auf die Kranzniederlegung an der Neuen Wache in Berlin, aber zu diesem Gedenken hatte der polnische Botschafter eingeladen. Früher wurde der 1. September in der deutschen Öffentlichkeit bei runden wie halb runden Jahrestagen größer begangen.

Selbst positive Jubiläen schiebt die Politik mitunter beiseite, wie die Erinnerung an die Orte, an denen 1989 der entscheidende Stein aus der Berliner Mauer gebrochen wurde: die Kirchengemeinde in Budapest, die vom 14. August 1989 an tausenden DDRBürgern Zuflucht gab, die ihren Weg in den Westen suchten – und das paneuropäische Picknick am 19./20. August auf dem ungarisch-österreichischen Grenzstreifen, das Hunderte zur Flucht nutzten. Zur Einweihung des Denkmals in Budapest kamen Ungarns Präsident, Regierungschef und Kardinal, doch kein deutscher Politiker folgte der Einladung.

Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. In den 80er und 90er Jahren wurde das jüdische Sprichwort oft zitiert. Es gilt auch für die Tagespolitik und den Alltag jedes Einzelnen. Der ehrliche Blick zurück versöhnt mit der Gegenwart. Die Erinnerung an vergangene Mühsal kann manchen Verzicht, der uns heute abverlangt wird, relativieren. Und die Bilder, die ganz Europa 1989/90 jubeln ließen, wecken noch heute Rührung und Dankbarkeit. Der deutsche Gedächtnisschwund ist heilbar. Jeder fünfte Deutsche will die Mauer wiederhaben? Das war eine falsche Interpretation; die Frage lautete sinngemäß, ob es uns besser ginge, wenn die Mauer noch stände – was man rein materiell gesehen mit Blick auf die Kosten der Einheit vermuten darf. Ohne Mauer ist es dennoch besser. Die andere Vergesslichkeit war wohl nur ein mentales Sommerloch. Was Ungarn für Deutsche getan haben, das würdigten Altkanzler Kohl und Bundespräsident Köhler gestern in Berlin – und dafür dankt Kanzler Schröder am 16. September in Budapest. Gut, wenn man Nachbarn hat, die einem auf die Sprünge helfen.

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