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Meinung: Das Glück der Österreicher

Heute feiern unsere Nachbarn 50 Jahre Staatsvertrag. Der hat die Teilung des Landes verhindert – und vieles blockiert

Die Natur macht keine Sprünge, wohl aber, gelegentlich, die Geschichte. Einen solchen Sprung bedeutete der österreichische Staatsvertrag, der heute vor 50 Jahren unterzeichnet wurde. Mit ihm gewann das Land zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, den es zusammen mit Deutschland verloren hatte, seine Unabhängigkeit wieder. Es belegt den fast mythischen Rang dieses Ereignisses, dass Österreich diese diplomatisch-politische Operation zum Angelpunkt eines ganzen Jubiläumsjahres gemacht hat. Wie eine Prunkschnalle soll der Staatsvertrag die unterschiedlichsten Daten zusammenhalten: das Kriegsende vor 60 Jahren, diverse kulturelle Denkwürdigkeiten wie die Wiedereröffnung des Burgtheaters im Oktober 1955 und den EU-Beitritt 1995 – alles zusammen so etwas wie der gedachte Lebens- und Identitätsfaden Nachkriegsösterreichs.

Die Unbefangenheit, mit der sich Österreich in dem Jahr, das anderswo ganz im Zeichen des Kriegsausgangs steht, selbst feiert, hat etwas Verblüffendes – selbst wenn es möglich sein sollte, dass die Regierung dabei auch an die Wahlen im nächsten Jahr denkt. Auch, weil die Veranstaltung einen unverwechselbaren Österreich-Sound hat – Äußerungen des Dankes und Respekts vor der Aufbaugeneration, anrührendes Kramen in Kindheitserinnerungen an festtägliche rot-weiß-rote Fähnchen-Bastelstunden, versetzt mit viel Gemüt. Über allem schwebt wie ein barocker Deckenfries das historische Staatsvertragsbild vom Balkon des Wiener Belvedere mit dem den Vertrag vorzeigenden Außenminister Figl inmitten der Vertreter der Siegermächte. Das österreichspezifische Vitriol fehlt nicht: Mit dem Staatsvertrag, so hat gerade der renommierte Politologe Anton Pelinka erklärt, habe auch die „österreichische Amnesie“, die notorische Erinnerungsunwilligkeit, begonnen, die das Land später zum Beispiel in die Waldheim-Affaire trudeln ließ.

Unbestritten bleibt, dass der Staatsvertrag den Grundstein für die Erfolgsgeschichte gelegt hat, die das vergangene Halbjahrhundert für Österreich bedeutet. Es hat das Land von der Herrschaft der Besatzungsmächte befreit und die Zonen aufgehoben, in die es nach 1945 aufgeteilt wurde. Mit ihm war die Erklärung der immerwährenden Neutralität verbunden und das Verbot, sich an Deutschland – wie 1938 – anzuschließen. Mit alledem hat der Vertrag den Weg Österreichs befestigt: weg von den großdeutschen Fantasien, die das Land seit dem Ende der K.-u.-k.-Monarchie bewegt hatten, hin zur staatlichen Selbstständigkeit, zur „Nation Österreich“.

Die Bedeutung des 15.Mai 1955 zeigt sich indessen nicht zuletzt in dem, was er dem Land erspart hat, vergleicht man sein Schicksal mit dem des deutschen Nachbarn: Teilung, Zweistaatlichkeit, Grenze und Mauer, Abhängigkeit vom Ost-West-Konflikt – nicht zu reden von den Entfremdungen unter den Deutschen, mit denen wir seit 15 Jahren ringen. In gewissem Maße kann man sogar sagen, dass Österreich 1955 jene Einheit gewann, die Deutschland erst 1990 wieder erreichte. Die Frage, ob man das in Deutschland nicht hätte auch haben können, hat das „Wunder“, das viele in dem Vertrag sahen, schon damals begleitet.

Weshalb der Staatsvertrag überhaupt zustande kam, hat erst die Zeitgenossen und dann die Historiker lange beschäftigt. Denn es war – und blieb – im zerrissenen Europa der Nachkriegszeit ein singulärer Fall, dass die Sowjetunion ein Land aus ihrem Herrschaftsbereich wieder entließ. Hatte Österreich nur Glück? Hatte es das Glück verdient? Was machte es besser als andere?

Die meisten Historiker stimmen heute darin überein, dass Österreich die Chance nicht zuletzt deshalb bekam, weil es ein kleines Land war. Seine Unabhängigkeit störte die machtpolitischen Kreise der Großmächte nicht sehr und bedeutete zumal für die Sowjetunion keinen wirklichen Verlust. Die Freigabe der europäischen Zentralmacht Deutschland dagegen hätte das Nachkriegsgleichgewicht erschüttert. Erst die Abkoppelung des Nachkriegsnachlasses Österreich von dem Problemfall Deutschland hat – so der Historikerkonsens heute – die Österreich-Lösung in Gang gebracht.

Aber der historische Schatten, den dieser Staatsvertrag bis in die Gegenwart hinein wirft, besteht auch in dem Zeugnis, das er für die Möglichkeiten der Politik in den bedrängten Zeiten ablegt. Als Europa zerbrach und von ideologischen Konflikten beherrscht wurde, brachten es Österreichs Politiker fertig, eine westliche Demokratie zu errichten und gleichwohl die Siegermacht Sowjetunion bei Laune zu halten. Die Raab, Figl, Schärf und wie die Protagonisten dieser Jahre hießen, keine Kissingers, aber durchweg bodenständig-kluge Köpfe, hielten die Chance einer eigenständigen Entwicklung im Blick. Beherzt griffen sie in den wenigen Wochen zu, in denen der berühmte Mantel der Geschichte, noch angesengt vom Zweiten Weltkrieg, durch Mitteleuropa flatterte.

An der Entstehung dieses Staatsvertrages ist noch mehr abzulesen. Sie exemplifiziert, wie solche Geschichte vor sich geht, wenn sie geht. So also entstand ein Kapitel der Vorgeschichte unserer Gegenwart. Die Prozesse, die Kriegsende und Ost-West-Konfrontation ausgelöst hatten, spitzen sich zu. Mitte der 50er Jahre zeichnet sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt ein Scheitelpunkt ab. Fasziniert erkennt man, wie sich die Bühne des europäischen Schicksals mit ihren Konferenzen, weichenstellenden Beschlüssen und neuen Bündnissen bewegt, bis sie in den Positionen der Nachkriegsordnung einrastete, die dann grosso modo bis zur großen europäischen Wende 1989 hielten.

Schlag auf Schlag folgten die Ereignisse aufeinander: Ende 1954 die Pariser Verträge, im Mai 1955 die Souveränität der Bundesrepublik und ihr Nato-Beitritt, zur gleichen Zeit die Gründung des Warschauer Paktes, Ende Mai die sowjetische Versöhnung mit Tito, im September Adenauers spektakuläre Moskau-Reise – beim Rückflug von der vergeblichen Genfer-Konferenz hatte Chruschtschow schon im Juli 1955 in Ost-Berlin Station gemacht, im Gepäck die Zusicherung der DDR-Eigenstaatlichkeit. Aus dieser Phase, in der um die Nachkriegsordnung noch gerungen werden konnte und gerungen wurde, wächst der Staatsvertrag heraus. Ein Jahr später,1956, ist alles vorbei. Die Sowjetunion schlug den ungarischen Aufstand nieder, und die Erklärung der Neutralität, eben Österreich noch eingeräumt, wurde zum Todesurteil für Ministerpräsident Imre Nagy.

Dass Österreich seine Chance bekam, Deutschland aber nicht, hat indessen auch damit zu tun, dass in Österreich zwar vieles ähnlich war wie in Deutschland, aber mehreres doch anders. Es ist auch die anders gewirkte Geschichte, die sich in dieser Lage geltend macht, ja, der Charakter des Landes selbst. Schon 1943 hatten die künftigen Sieger dem Land wegen der Annexion, die nach ihrer Ansicht im Anschluss 1938 enthalten war, den Status eines ersten Opfers Hitlers eingeräumt. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Russen wurde eine provisorische Regierung gebildet, eine neue Republik ausgerufen – und mit der Ersten Republik verbunden, indem deren Verfassung in Kraft gesetzt wurde. Noch Ende 1945 fanden gemeinsame Wahlen in ganz Österreich statt. Den Besatzungszonen war von Anfang an die Einheit des Landes und seiner Bürger entgegengesetzt.

Die Kontinuität, die dieser Akt aus Chuzpe, Gespür für die Situation und Geschichtsbewusstsein aktivierte, führt direkt zum Staatsvertrag 1955. Sie kommt wohl auch von weit her, aus einer langen Vergangenheit, die die Erfahrungen vom Überleben im Gemenge der Völker und Kulturen mit sich trägt. Sie trug einen Namen, Karl Renner, damals schon ein alter Herr von 75 Jahren. Vor dem Ersten Weltkrieg ein bedeutender sozialistischer Theoretiker – deshalb erlangte er von Stalin die Erlaubnis zur Ausrufung der Republik –, 1919 Staatspräsident der Ersten Republik, verband sich in ihm das alte Österreich mit der Gegenwart. Um sich einen Begriff von der Bedeutung der damit in Anspruch genommenen Kontinuität zu machen, muss man sich vorstellen, wie das Gleiche in Deutschland ausgesehen hätte. Da hätte Friedrich Ebert, der Staatspräsident der Weimarer Republik, 1945 einer Regierung präsidieren müssen, die noch im gleichen Jahr gemeinsame Wahlen in allen Zonen erreicht hätte.

Man erkennt die exzeptionelle historische Situation, in der der Staatsvertrag entstand, auch an der Haltung der Bundesrepublik. Kennen wir überhaupt andere als problemlose deutsch-österreichischen Beziehungen, bis hin zur Langeweile? Damals zeigte Bonn keineswegs nachbarliche Mitfreude, sondern unverhohlene Vorbehalte. Der Grund dafür lag in Adenauers Deutschland-Politik. Er fürchtete ein neutrales Österreich wie der Teufel das Weihwasser, weil er darin eine Gefahr für die von ihm verfolgte West-Bindung sah. Tatsächlich wirkte der Vertrag – wie ein österreichischer Publizist formuliert hat – wie ein „schriller Kontrast“ zur deutschen Entwicklung. Das führte am Rande der Berliner Außenministerkonferenz 1954, diesem fast schon letzten Versuch, mit hektischen Aktivitäten quer durch die Vier-Sektoren-Stadt die europäischen Verknotungen aufzulösen, zu grotesken Werbungsszenen. Während die Sowjets die Österreicher hofierten, beschworen die deutschen Diplomaten sie, von dem „gefährlichen Beispiel“ abzusehen.

Erst recht spektakulär fiel die deutsche Reaktion auf die Unterzeichnung aus. Die Bundesregierung griff zu massiven diplomatischen Schritten: Demarche in Wien, Rückberufung ihres Geschäftsträgers. Dahinter standen die gegensätzlichen Ansichten, aber wohl auch ein bisschen der Neid auf den Nachbarn, der sich der einstigen Schicksalsgemeinschaft und der europäischen Konfliktlage entzog. Das angespannte Klima offenbarte sich in der schönen Adenauer-Anekdote, die Bruno Kreisky berichtete, damals Staatssekretär, später Kanzler. Man verhandelte über österreichisches Eigentum in Deutschland. Der Kanzler, sarkastisch: „Österreichisches Eigentum in Deutschland? Wenn ich wüsste, wo die Gebeine Hitlers zu finden sind, würde ich sie Ihnen liebend gern als österreichisches Eigentum zurückstellen.“

Die Bilanz des Staatsvertrages ist positiv. Gleichwohl drängt sich die Frage auf, ob die lange Existenz in dem historischen Schonraum, die er dem Land verschaffte, nicht auch ihren Preis gekostet hat. Das Zögern und Verdrängen in der Aufarbeitung der Vergangenheit ist unübersehbar, desgleichen das Fortleben von dumpfen Milieus mit ihren vergärenden Resten großdeutscher Ideologie und nazistischer Unbelehrbarkeit. Auf das mentale Unterfutter dafür hat eben eine Umfrage aufmerksam gemacht: Jeder zweite Österreicher möchte einen Schlussstrich unter die Zeit vor 1945 ziehen. Die „ältere Generation der Österreicher (ist) noch stärker dem alten Denken verhaftet“, kommentiert ein Zeithistoriker in wissenschaftlicher Zurückhaltung den Befund.

Bedenklicher mag sein – auf den heutigen Gedenktag bezogen –, dass im 50. Jahr des Staatsvertrags denkbar unklar ist, welche Botschaft von diesem Tabernakel österreichischen Selbstbewusstseins heute ausgehen könnte. Die Neutralität ist zum Muster ohne Wert geworden. Das Anschlussverbot ist längst von jener Verflechtung mit der deutschen Wirtschaft unterlaufen, die der Publizist Otto Schulmeister den „zweiten Anschluss“ genannt hat. An der österreichischen Identität zweifelt niemand mehr. Was bleibt also? Der Gedanke, die Neutralität mit der banalen Deutung zu retten, dass politischen Lösungen der Vorrang vor militärischen zu geben sei, kann es nicht sein. Es scheint, dass es dem Gedenkjahr, das auch gerne „Gedankenjahr“ genannt wird, nicht an Gedenken, aber an Gedanken fehlt.

Es trifft Österreich überdies in einer politisch prekären Lage. Nach der langen Phase, in der die großkoalitionäre Stimmung das Land stabil gehalten hat, haben die im Aufstieg und Fall der Haider-Partei aufgebrochenen Verwerfungen die politischen Strukturen erschüttert. Die Regierung steht wegen des Auseinanderbrechens des kleineren Koalitionspartners fast nur noch auf einem Bein. Eine bislang nicht gekannte politische Instabilität droht. Da lässt sich der Eindruck schwer unterdrücken, dass das Jubiläumsjahr, dass doch, natürlich, in die Zukunft weisen soll, von einem feinen, melancholischen Hauch von Abschied begleitet wird. Schon Nachsommer?

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