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Meinung: „Das Leben wird rückwärts verstanden“

Wer diese Behörde führt, kann eigentlich nur polarisieren – ohne es vielleicht selbst zu wollen. Diese Erfahrung musste Marianne Birthler in ihrer nunmehr fünfjährigen Amtszeit oft machen.

Von Matthias Schlegel

Wer diese Behörde führt, kann eigentlich nur polarisieren – ohne es vielleicht selbst zu wollen. Diese Erfahrung musste Marianne Birthler in ihrer nunmehr fünfjährigen Amtszeit oft machen. Als sie im Oktober 2000 als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen ernannt wurde, tat sie das in der Überzeugung: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Beides gehört zusammen.“ Geschichtsverleugnung empfand sie als Selbstverleugnung.

Die 57-jährige einstige Katechetin und Kirchen-Jugendreferentin hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass für sie die Erinnerung an die Opfer von Repression, Zersetzung und politischer Justiz und deren Rehabilitierung – sei es auch nur durch das Gut Wahrheit – Vorrang hat. Die Weisheiten ihrer Mutter – aus deren Erfahrungen mit einer freilich unvergleichlichen Diktatur –, waren ihr Maßstab: Es ist besser, den Mund aufzumachen als zu schweigen. Es ist schwer, mit Versagen und Scham zu leben. Es klärt und erleichtert, über diese Scham offen zu sprechen.

Diejenigen, die nach dem Zusammenbruch der DDR den zweiten Punkt erlebt hatten, zum dritten aber nicht gelangten, ließen sich schnell zu der Einschätzung hinreißen, mit der Behörde werde „Hexenjagd“ betrieben oder sie sei ein „Jagdverein gegen Ostdeutsche“. Birthler indes ficht das nicht wirklich an – schon zu DDR-Zeiten hatte sie als systemkritisches Mitglied der „Initiativgruppe für Frieden und Menschenrechte“ gelernt, mit Widerständen umzugehen. Und als sie im Oktober 1992 wegen der Stasi-Vorwürfe gegen den damaligen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) aus Protest als Potsdamer Bildungsministerin zurücktrat, stieß sie – vor allem in der „kleinen DDR“ Brandenburg – auch nicht nur auf Verständnis.

Wer polarisiert, muss um Genauigkeit und Trennschärfe bemüht sein, um sich nicht angreifbar zu machen. Im September hatte Birthler in einem Interview sieben IMs unter den PDS-Bundestagsabgeordneten ausgemacht. Mal eben so. Tags darauf korrigierte sie sich – betont nonchalant. Das war Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner. Manche verübeln der Behörde auch, dass sie mit der Prioritätensetzung bei der Aktenherausgabe Politik mache, Wissenschaftler rügen den schwierigen Zugang. Gleichwohl: Das Bundeskabinett hat sich jetzt für eine weitere Amtszeit Birthlers ausgesprochen. Dem wird der Bundestag vermutlich mit großer Mehrheit folgen.

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