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Meinung: Das Leid des Nachbarn

Plädoyer für ein Zentrum des polnischen Martyriums in Berlin Von Stefan Hambura

Der Vorschlag, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zu errichten, schlug große Wellen in Polen und beeinträchtigt seitdem die gegenseitigen Beziehungen. Die Formulierung im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD hat diese Auseinandersetzung nicht beendet. Im Gegenteil: Sie lässt viele Möglichkeiten für Deutungen offen.

Dort heißt es: „Die Koalition bekennt sich zur gesellschaftlichen wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um – in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität über die bisherigen beteiligten Länder Polen, Ungarn und Slowakei hinaus – an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten.“

Einerseits wird vorgeschlagen, die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“, die am 2. Dezember letzten Jahres im Bonner Haus der Geschichte eröffnet wurde, nach Berlin als „sichtbares Zeichen“ zu holen. Andererseits wird unterstrichen, dass Angela Merkel wenige Tage, bevor sie zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, ganz deutlich sagte, dass sie das Anliegen der Vertriebenen zu ihrer persönlichen Angelegenheit machen wolle. Es gibt und es wird also noch viele andere Vorschläge geben. Dennoch steht es fast fest, dass es „auch in Berlin ein sichtbares Zeichen“ geben wird. Dieses sichtbare Zeichen als Erinnerung an Vertreibung wäre aber nur dann gerechtfertig, wenn zugleich an die vielen Toten und Ermordeten in Polen sowie an das Leid der polnischen Nation erinnert werden würde.

Vor der Flucht und Vertreibung der Deutschen gab es den Überfall auf Polen am 1. September 1939, der zugleich den Beginn des Zweiten Weltkrieges bedeutet. Dass „Ein Zentrum des polnischen Martyriums“ im Zentrum von Berlin erforderlich und notwendig ist, belegt auch das Unwissen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit, der im Rahmen einer „Pisa-Simulation“ nicht wusste, in welchem Jahr der Zweite Weltkrieg begann. Wowereit ist nicht der einzige Politiker mit Lücken in deutsch-polnischen Angelegenheiten. Vor ihm verwechselte der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Jahre 1994 den Warschauer Aufstand im Jahre 1944 mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahre 1943. Erst als zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes Gerhard Schröder als Bundeskanzler im vorletzten Jahr in Warschau weilte, drang diese Tatsache in das bundesrepublikanische Bewusstsein ein und damit die Zahl der etwa 250 000 ermordeten Warschauer.

Diese Beispiele belegen exemplarisch, dass wir in Deutschland sehr wenig über das Schicksal und die Leiden der Polen im Zweiten Weltkrieg wissen: wie die Tatsache, dass Polen als Untermenschen zur Zwangsarbeit gezwungen oder willkürlich von der Straße und im Falle der polnischen Intelligenz und des polnischen Klerus systematisch in Konzentrationslager geschickt wurden, in denen sie oft den Tod fanden. Deshalb verwundert es nicht, wenn in der deutschen und internationalen Presse von polnischen Konzentrationslagern geschrieben wird. Richtig heißt es: deutsche Konzentrationslager auf dem Gebiet des besetzten Polens. Des Weiteren ist unbekannt, dass über 800 polnische Dörfer während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen niedergebrannt und deren Bevölkerung ermordet wurde. In einem polnischen Dorf in Skierbieszów in der Nähe von Zamodk ist der gegenwärtige Präsident Horst Köhler im Jahre 1943 geboren worden. Ein Spiegel-Online-Journalist verlegte vor kurzem diesen Ort nach Warthegau.

Es ist der Präsidentin des BdV Erika Steinbach zuzustimmen: Zu lange wurden Ängste geschürt und falsche Emotionen geweckt. Nun ist es an der Zeit, zur sachlichen Diskussion zurückzukehren. Diese kann aber nur dann geführt werden, wenn wir in Deutschland, auch in Berlin, über unser Nachbarland Polen und seine Geschichte Bescheid wissen. Dazu gehört auch das Wissen über die Leiden, die aus deutscher Hand Polen angetan wurden. Ein „Zentrum des polnischen Martyriums“ in Berlin ist dafür eine Voraussetzung. Erst dann kann über ein anderes „sichtbares Zeichen“ in Berlin gesprochen werden.

Der Autor ist Rechtsanwalt in Berlin und Verfasser des Reparationsgutachtens für das polnische Parlament.

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