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DAS politische BUCH: Wer einmal Kanzler war, ist nie mehr außer Dienst

"Außer Dienst" verrät viel über das Weltbild von Helmut Schmidt. Gerd Appenzeller über das neue Buch des Altkanzlers.

Helmut Schmidt hat ein Buch geschrieben. Er hat in seinem Leben viele Bücher geschrieben, und über ihn sind viele Bücher geschrieben worden. Das neue Buch von Helmut Schmidt wird heute Abend in Berlin vorgestellt. Es ist vermutlich sein letztes Buch. Helmut Schmidt ist 89 Jahre alt. Der erste Satz des Buches mit dem Titel „Außer Dienst“ lautet: „Gegen Ende des Lebens wollte ich einmal aufschreiben, was ich glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben.“

Als der frühere Kanzler, noch vor seiner Zeit als sozialdemokratischer Regierungschef, Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion geworden war, trug er bereits den Spitznamen „Schmidt-Schnauze“. Den hatte er aus seiner Hamburger Zeit nach Bonn mitgebracht. Schmidt hat diese Zuschreibung kaum als Beleidigung empfunden. Er konnte überheblich und schneidend formulieren und sein Gegenüber spüren lassen, dass er sich ihm nicht nur überlegen fühlte, sondern auch wusste. Peer Steinbrück hat ein bisschen was vom frühen Helmut Schmidt.

Zu behaupten, dass Helmut Schmidt jetzt altersmilde geworden sei, wäre übertrieben. Jedoch erkennt er im Nachhinein seine Ungeduld und seine an Unhöflichkeit grenzende Direktheit als Fehler an. Seine Urteile über Menschen und Situationen aber sind von ungebrochener Klarheit und jene Zeitgenossen, die jetzt Schmidts Anmerkungen über Oskar Lafontaines Un-Qualitäten als senil oder unwichtig abhaken wollen, sollten besser „Außer Dienst“ lesen, bevor sie sich über die intellektuellen Qualitäten des fast 90-jährigen Autors auslassen.

Da sind einmal die Menschen, die er Revue passieren lässt. Jene, die ihn beeindruckten, wie Hans-Jochen Vogel durch seine Nachdenklichkeit und Glaubwürdigkeit. Oder Herbert Wehner, dem er zwar wegen seiner kommunistischen Vergangenheit eine „zerklüftete Persönlichkeitsstruktur“ attestiert, den er aber als strengen Moralisten und vielfältigen Helfer im Verborgenen erlebte. Oder Gerhard Schröder, den er wegen seiner klaren Haltung gegen den Irakkrieg lobt. Und dann, manchen Leser mag das vielleicht überraschen, erwähnt er mit größter Hochachtung George Bush sen., den Vater des heutigen US-Präsidenten. Ihm persönlich und der von ihm geführten amerikanischen Regierung kommt, so schreibt Schmidt, wegen derer „internationalen Staatskunst“ das größte Verdienst an der deutschen Einheit zu.

Schmidt wäre nicht Schmidt, wenn Lob nicht auch die Kehrseite des Tadels hätte. Wo der Anteil der Amerikaner an der Wiedervereinigung so groß ist, muss zwangsweise der von Bundeskanzler Kohl und anderer deutscher Politiker „relativ beschränkt“ ausfallen. Auch für Hans-Dietrich Genscher findet sich kein Lorbeerkranz. Kunststück, gehörte der, zusammen mit Otto Graf Lambsdorff, doch zu den Sargträgern der sozial-liberalen Koalition. Dass Schmidt sich von Willy Brandt beim Nato-Doppelbeschluss im Stich gelassen fühlen durfte, bestätigen ihm Zeitgeschichtler. Und unter Politologen, und nicht nur beim Altkanzler, gibt es Zweifel an der Berechtigung von Joschka Fischers Bezug auf den millionenfachen Judenmord, um die deutsche Beteiligung am Balkankrieg zu legitimieren.

Schmidts kühle Distanz zu seiner Umwelt und sein Verhältnis zur Macht wird auch aus dieser Anmerkung deutlich: „Es wäre eine irreale, geradezu absurde Vorstellung, unter den Führungspersonen an der Spitze eines Staates oder auch einer Partei müßten persönliche Freundschaftsverhältnisse bestehen. Was vielmehr zählt, sind Loyalität, Solidarität, Zuverlässigkeit“.

„Außer Dienst“ verrät viel über Schmidts Weltbild. Er bleibt, bei aller Referenz vor der Bedeutung der transatlantischen Bindungen, den USA gegenüber skeptisch. Das war er schon zu Kanzlerzeiten, als er dem damaligen Präsidenten Jimmy Carter meinte erklären zu müssen, wie die Weltwirtschaft funktioniert. Und er ist bis heute misstrauisch, weil er – da steht er nicht alleine – glaubt, dass die USA die schnelle Erweiterung der europäischen Union nur forderten, um diese zu schwächen. Dass Schmidt Europäer durch und durch ist, weiß man ohnedies.

Dass er Visionär ist und, im Gegensatz zu seinem eigenen Diktum, deswegen nicht zum Arzt ging, spürt man in diesem Buch mehr als in früheren. Sein Biograf Jonathan Carr hat vor einem Vierteljahrhundert ein Ereignis aus dem Jahre 1979 geschildert, als Schmidt, in Zeiten des kältesten kalten Krieges, internationalen Diplomaten bei einer Aspen-Konferenz in Berlin erklärte: Niemand solle daran zweifeln, dass die trennenden Schranken des Kontinentes eines Tages verschwinden und die Deutschen wieder zusammenkommen würden. Das hat sich erfüllt – eine schöne Bestätigung gegen Ende des Lebens. Gerd Appenzeller







– Helmut Schmidt:
Außer Dienst. Eine Bilanz. Siedler Verlag, München 2008. 352 Seiten, 22,95 Euro.

Gerd Appenzeller

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