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Viele, die gegen den Ablauf der jüngsten Wahlen in Weißrussland protestierten, wurden eingesperrt - wie dieser Mann in Minsk.

© AFP

Demokratie: Das Projekt Europa steht erst am Anfang

Ganz Europa gehört den Demokraten. Ganz Europa? Nein! Der grimmige Weißrusse Lukaschenko lässt politische Widersacher niederknüppeln und einsperren. Doch er ist nicht der einzige „negative Gallier“ auf einem Kontinent der Demokraten.

Von Caroline Fetscher

Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten.“ So beginnt der Comic-Klassiker von Asterix und Obelix, den jedes Kind in Europa kennt. Auf der politischen Landkarte des zeitgenössischen Europa kann das Leitmotiv dieser Geschichte heute mit umgekehrten Vorzeichen gelesen werden. Ganz Europa gehört den Demokraten. Ganz Europa? Nein! Ein Diktator im Nordosten des Kontinents hört nicht auf, dem Fortschritt die Stirn zu bieten. Der grimmige Weißrusse Lukaschenko lässt politische Widersacher niederknüppeln und einsperren, ob Hausfrauen oder Lyriker oder Oberschüler. „Europas letzter Tyrann“ war zu hören, als Aleksander Lukaschenko erneut die Wahlen in seinem Land gewann, das wie ein Puffer zwischen Polen und Russland liegt. Lukaschenko, der befreundet sein soll mit Nordkoreas Betonkommunist Kim Jong Il und sich mit den verblichenen Despoten Saddam Hussein und Slobodan Milosevic gut verstand, regiert per Geheimpolizei und proklamiert für sich „an die besten sowjetischen Erfahrungen“ anzuknüpfen.

Tatsächlich leben wir Europäer auf einem Kontinent, wie ihn sich Immanuel Kant in seiner Schrift zum Ewigen Frieden erdacht zu haben scheint. Ganze Generationen wachsen ohne Krieg und Mangel auf, eindrucksvoll expandiert die Landkarte der Demokratie Jahr für Jahr. Erzfeinde von einst – wie Deutschland und Frankreich – gestalten gemeinsam mit am großen Projekt Europa. Allen anderen voran zeigten zuerst die zivilisierten Skandinavier, wie aus Feinden befreundete Nachbarn werden. Sinnbild dafür sind etwa die Nordischen Botschaften in Berlin, die sich einen einzigen modernen Bau aus separaten Flügeln mit gemeinsamer Kantine teilen. Ist aber Lukaschenko wirklich der einzige „negative Gallier“ auf einem Kontinent der Demokraten? Nein! Und: Vorsicht. Denn Selbstgefälligkeit ist hier für die Demokratie so gefährlich, wie es Banken ohne Regulierung für das Finanzsystem sind. Nicht nur an seinen Rändern, in Weißrussland, der Ukraine, den Balkanstaaten nach den Zerfallskriegen weist die europäische Landkarte politische Verwerfungen auf.

Ungarn schottet sich derzeit nationalistisch gegen mediale „Feinde“ von innen ab, Antisemitismus und Antiziganismus, also gruppenbezogene Feindseligkeit gegen Roma und Sinti, sind in Ungarn mehrheitsfähig. In Italien, mitten im soliden Kerneuropa der Brüssler Verbündeten, regiert und regiert ein Operettenpremier, der sich systematisch die Medien, die Gesetze und diverse, willige Mädchen unterwirft. Im Vatikanstaat, mitten in Italien, hadern Papst und Kurie mit schreckensvollen Enthüllungen vergangener und aktueller Skandale. In den Niederlanden – und anderen EU-Mitgliedsstaaten – gedeihen europaskeptische und moslemfeindliche Ideologien, während die Juden in den Niederlanden sich vor dem wachsenden Antisemitismus der migrantischen, muslimischen Bevölkerung fürchten. Viele Europäer indes sehnen sich fort vom Euro und nach ihrer alten Währung.

Das Projekt Europa, scheint es, steht erst an seinem Anfang, es hat Bewährungsproben vor sich, auf die alle Heranwachsenden vorbereitet werden sollten. Beides gilt es dabei, libidinös zu besetzen, wie Sozialwissenschaftler so etwas nennen: Europa und die Demokratie. Das ganze Gerede um „Werte“ erübrigt sich, wenn diese emotionale Besetzung gelingt. Dann wird sie auch von der nächsten Generation ins Politische übersetzt.

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