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Meinung: Demokratischer Materialismus

Von Matthias Schlegel

Viele Milliarden fließen seit anderthalb Jahrzehnten in den Osten, die Neubundesbürger können reisen wohin sie wollen und genießen auch alle anderen Segnungen der freiheitlichen Gesellschaft. Und wie danken sie es? Mit Demokratiefrust, Ausländerfeindlichkeit und extremistischen Gewaltorgien. Wer solch einen Zusammenhang herstellt, hat nichts verstanden: Nichts vom schwierigen deutsch-deutschen Zusammenwachsen, nichts von den langen Schatten einer Diktatur und vor allem nichts vom Osten. Warum aber reagiert die Politik erst jetzt zunehmend bestürzt auf die gefühlten und durch empirische Erhebungen bestätigten Erkenntnisse über die Defizite im demokratischen Empfinden der Ostdeutschen? Weil sie im Großen offenbar genauso auf die Wunderheilkraft des Materiellen vertraute wie so mancher Neubundesbürger im Kleinen.

Als der CDU-Parteitag Ende November den Osten mit keinem Wort und erst recht keinem Beschluss bedacht hatte, feierten das führende Unionspolitiker – auch aus dem Osten – mit dem Argument, nun sei eben Normalität eingezogen. Der Solidarpakt ist festgezurrt, die Gelder fließen zuverlässig, in vielen ostdeutschen Regionen sieht es mittlerweile schöner aus als im Westen, und bei der Kaufkraft habe man sich ja ohnehin deutlich angenähert. An diesem Befund wäre nichts falsch, blendete er nicht einen Punkt aus, der für die Befindlichkeit in den neuen Bundesländern einen ganz vorrangigen Stellenwert hat: Solange die Arbeitslosigkeit im Osten noch immer doppelt so hoch ist wie im Westen – und das seit mittlerweile anderthalb Jahrzehnten –, werden sich die Bundesbürger dort nur schwerlich in der Demokratie einrichten und ihr vertrauen. Dass die Politik keine Arbeitsplätze schaffen kann, ist, so richtig es auch sein mag, als gebetsmühlenartig vorgetragenes Argument zu wenig. Wer diesem Umstand nicht wirkungsvoller begegnen kann, muss eben mehr dafür tun, um Demokratie verständlicher zu erklären – und vorzuleben.

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