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Demonstrationen: Wir sind Bürger, nicht nur Wähler

Die Gesellschaft erinnert die Politiker daran, dass sie in ihrem Auftrag handeln. Wie reagiert darauf die Politik? Sie gerät unter Druck. Und bewegt sich ebenfalls.

Von Patricia Wolf

Vertrauen, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit. Diese Tugenden sind nicht nur Basis einer guten Beziehung zwischen zwei Menschen. Sie sind auch unverzichtbar im Verhältnis von Politikern und den von ihnen Regierten. Doch derzeit vermissen die Bürger, der Souverän, sie offenbar bei den von ihnen beauftragten Vertretern.

Deutschland bewegt sich. Es driftet nicht nach rechts oder links – es geht auf die Straße. Die Menschen begehren auf, demonstrieren, organisieren sich in immer mehr Bürgerinitiativen. Und es sind beileibe nicht die Autonomen, die das tun, es sind Schulklassen, Mütter und Väter, Linke wie Rechte. Gesetzte Damen und Herren aus der Generation Ü 60 lernen in Seminaren, wie sie – legal – Sitzblockaden durchführen. Diskussionsveranstaltungen zu politischen Themen sind gerappelt voll, ein dezidiert politisches Buch wie das von Thilo Sarrazin ist das am meisten verkaufte Sachbuch seit 1945. Und als in der vergangenen Woche der Bericht der Historikerkommission zur Rolle des Auswärtigen Amtes während und nach der Nazi-Zeit vorgestellt wurde, waren knapp 1000 Leute im Saal, weit mehr noch begehrten vergeblich Einlass.

Eine Repolitisierung zeigt sich. Vielleicht spüren die Menschen auch, dass nach all den Jahren zunehmender Individualisierung nun eine Zeit gekommen ist, sich wieder weniger mit sich selbst als mit dem großen Ganzen zu beschäftigen. Der Souverän wird souverän, der Bürger wird autonom: Die Menschen protestieren gegen Atom, Flugrouten, zu teures Wasser, eine verfehlte Schulpolitik. Vor allem aber demonstrieren sie dagegen, nicht ernst genommen zu werden. Sie verlangen, dass ihnen Politik erklärt und vermittelt wird. Dass Entscheidungen nicht in Hinterzimmern getroffen und dass die Prozesse, die zu ihnen führen, transparent gemacht werden.

Wie reagiert darauf die Politik? Sie gerät unter Druck. Und bewegt sich ebenfalls. Immer mehr ihrer Vertreter scheinen zu begreifen, dass sich die Bürger Politik nicht mehr von oben verordnen lassen. Keiner soll sich stärker als der Bürger fühlen – von Norbert Lammert bis Klaus Wowereit ist das die Botschaft. Wowereit forderte jetzt die Menschen sogar ausdrücklich dazu auf, auf die Straße zu gehen, ihre Interessen per Volksbegehren durchzusetzen. Die Linken-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau attestiert Deutschland, dass es in Sachen Demokratie ein Entwicklungsland sei. Verkehrsminister Peter Ramsauer hat die Zeichen der Zeit wohl auch erkannt. Bei der Neuplanung der Flugrouten, sagte er gerade, habe Lärmschutz Vorrang – Ramsauer ahnte wohl, dass es ansonsten recht bald ein Berlin 21 gegeben hätte. Und in den Verkauf der Berliner Wasserbetriebe ist ebenfalls Bewegung gekommen.

Wichtig ist nun allerdings, dass die Politik nicht nur kurzfristig reagiert, unter Druck, sondern erkennt, dass langfristig Politik nur durchsetzbar bleibt, wenn sie vermittelt wird. Ansonsten werden sich die Bürger enttäuscht abwenden und sich der Partei der Nichtwähler anschließen.

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