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Der 1. Weltkrieg und EU: Die Rückkehr zum Vielvölkerstaat

Der Attentäter von Sarajewo wollte die Südslawen aus dem "Völkerkerker" befreien. Die Wucht der Nationalstaatsidee entfaltete damals eine kaum aufhaltbare Dynamik. Was kann die EU aus dieser Erfahrung lernen?

Die Schüsse auf das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo heute vor hundert Jahren mussten nicht zwangsläufig einen Weltkrieg auslösen. Sie weisen jedoch auf eine Kriegsursache hin, die in den spannenden Debatten um die „Schlafwandler“ und eine daraus abzuleitende Relativierung deutscher Kriegsschuld in den Hintergrund zu geraten droht: Die Idee des Nationalstaats entfaltete damals eine kaum aufhaltbare revolutionäre Dynamik. Der serbische Bauernsohn Gavrilo Princip tötete Franz Ferdinand und dessen Frau, weil er in der Vielvölkermonarchie der Habsburger einen Völkerkerker sah und an ihrer Stelle Nationalstaaten anstrebte, darunter einen Staat aller Südslawen unter serbischer Führung, das spätere Jugoslawien.

Die Europäer wollen den Nationalstaat nicht beseitigen, aber mit der EU überwölben

Heute gehen die Europäer den umgekehrten Weg. Sie wollen die Nationalstaaten zwar nicht beseitigen, aber mit der EU überwölben, um Frieden zu wahren und in der Globalisierung zu bestehen. Der supranationale Ehrgeiz im Angesicht der Schlachtfelder von Ypern rehabilitiert in gewisser Weise die Idee des Vielvölkerstaats vor dem Ersten Weltkrieg.

Die identitätsstiftende Kraft der Nation war 1914 nicht mehr ganz jung, aber ihre Wucht konnte sie entfalten, weil der Krieg die alte Ordnung – mehrere Völker unter einer Herrschaft – zerstörte, jedenfalls auf dem Gebiet der drei Verlierer: Habsburgermonarchie, Osmanisches Reich, deutsches Kaiserreich. Ein Vergleich der Karten von Europa und dem Nahen Osten vor und nach dem Krieg sowie heute zeigt die Tragweite. Die Gebiete, die 1914 zu den drei Reichen gehörten, verteilten sich danach auf rund 20 Staaten. Heute sind es annähernd 30. Die Konflikte in der Ukraine, Moldawien, auf dem Balkan, in Syrien und dem Irak sind auch Langzeitfolgen dieses Umbruchs im staatlichen Organisationsprinzip.

Die neue Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg war nicht von Dauer, sondern wurde bei nächster Gelegenheit erneut korrigiert, mitunter mehrfach. Teils war die nationale Idee nicht konsequent umgesetzt worden, teils erwies sie sich als falsches Ordnungsprinzip. Weder die Südslawen empfanden sich als eine Nation noch Tschechen und Slowaken. Die einen trennten sich friedlich, die anderen in blutigen Kriegen. Die Ukrainer erreichten erst Jahrzehnte nach 1918 die Eigenstaatlichkeit. Sie hatten ihre Ansprüche gegen ihre stärkeren Nachbarn Russland und Polen nicht durchsetzen können.

Aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches wurden zudem Staaten geschaffen, deren Grenzen keinem nachhaltigen Ordnungsprinzip folgen. Die religiöse Identität ist im Libanon, in Syrien und im Irak heute ähnlich prägend wie der nationale Ansatz, womöglich sogar mächtiger. Die „panarabische“ Idee wurde zeitweise romantisch verklärt, im Westen in Filmen wie „Lawrence von Arabien“, in der Region beim Auftauchen charismatischer Persönlichkeiten wie Nasser. Sie hat sich aber ebenso wenig durchgesetzt wie der Glaube an die Einheit aller Südslawen.

Der Nationalstaat bleibt Bezugspunkt

Und die Lehre für die EU aus alledem? Der Nationalstaat bleibt vorerst erster Bezugspunkt der Identität für die meisten Europäer. Ihr Angebot, die Kleinstaaterei durch supranationale Kooperation zu überwinden, wirkt attraktiv und friedensstiftend, solange sie die nationale Idee nicht infrage stellt und Ängste vor einem „Völkerkerker“ weckt. Diese Soft Power ist ihr großer Vorsprung gegenüber Staaten, die ihr Nationalinteresse gegenüber Minderheiten im Land und Nachbarländern mit Gewalt durchsetzen, ob in Russland oder im Nahen und Mittleren Osten.

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