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Meinung: Der deutsche Generalbass

Eine Nation zwischen Auschwitz und Mozart: Der 27. Januar ist ein doppelter Gedenktag

Das Menschheitsverbrechen, mit dem sich Deutschland unauslöschlich in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat, mag in Einzelaspekten immer noch weiter erforscht werden. In seiner ganzen, ungeheuerlichen Dimension jedoch liegt der NS-Völkermord klar vor Augen. Am heutigen Freitag, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, wird seiner gedacht.

Zufällig wird an diesem Freitag auch der 250. Geburtstag Mozarts gefeiert, dieses Menschheitsbeglückers durch Musik. Das Land, in dem er geboren wurde, hat ihn seit jeher für sich vereinnahmt. Die staatliche Zuordnung war zu Mozarts Zeiten drückender, geistig indessen weit weniger bedeutsam als heute. Mozart schrieb Opern in Italienisch und Deutsch; die wirkungsmächtigste, die „Zauberflöte“, gehört zum österreichischen wie zum deutschen Patrimonium wie überhaupt zum Weltkulturerbe.

Mozart und Auschwitz, in diesem Spannungsbogen muss sich die deutsche Nation seit dem Hitler-Regime einrichten. Das Land der Dichter und Denker wurde zum Land der Richter und Henker. Aber Geschichte ist nicht statisch. Sie verändert sich unter dem jeweiligen Blick des Heute. Dass sich Mozart nicht gegen Auschwitz aufrechnen lässt, leuchtet dem schlichtesten Gemüt ein; dass es umgekehrt ebenso wenig gelingt, muss bisweilen erwähnt werden.

Es kann überhaupt nicht um historische Rechnungen gehen. Sie funktionieren nie. Worum es geht, ist, die Gesamtheit der geschichtlichen Ereignisse zu erfassen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Dieser Zusammenhang ist stets interessengeleitet, geleitet nämlich von den Interessen der hier und heute Lebenden. Die neue Rolle, die die wiedervereinte Bundesrepublik nach 1990 einnehmen musste, stellt ein solches, nationales Interesse dar. Der Kriegseintritt der Bundeswehr auf dem Balkan wurde mit dem Argument „Nie wieder Auschwitz“ gerechtfertigt, um den Spagat einer vergangenen zur plötzlich notwendig gewordenen Geschichtsbetrachtung zu schließen. Auf Dauer jedoch bleibt allein die Tatsache, dass sich das vereinte Deutschland als Mittelmacht zu den nötigen Konsequenzen genötigt sah, wie immer sie moralisch verbrämt worden sein mochten.

Der 27. Januar bleibt der Gedenktag des NS-Völkermordes. Ob dies auch für die Millionen von Migranten zutrifft, die nicht für den deutschen Abweg in Haftung genommen werden können, diese Frage beleuchtet die Relativität eines jeden Geschichtsbildes. Aus der Mitte der deutschen Gesellschaft sind neue Fragen hinzugetreten. Die aktuelle Debatte um die angemessene Darstellung des Schicksals der deutschen und europäischen Vertriebenen bildet nur die sichtbarste Spitze einer Reihe solcher Fragen, die an die Geschichte gestellt werden. Nie lassen sich solche Fragen durch rituellen Verweis auf angebliche Unzulässigkeit, auf drohende Relativierung unterdrücken.

„In diesen heil’gen Hallen“, singt Sarastro in der „Zauberflöte“ – „kennt man die Rache nicht …“ Rache als Antrieb der Politik ist uns, nach den Lehren von Hitler und Weltkrieg, zum Glück fremd geworden. Spricht man von „Revision“ statt von „Rache“, kommt man dem legitimatorischen Kern aller Geschichtsdebatten nahe. Immer geht es darum, den einen Aspekt durch einen anderen zu überlagern oder zu ersetzen. Worum es am 27. Januar gehen muss, ist, die Spannung auszuhalten, die die beiden so ungleichen Gedenktage uns zumuten.

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