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Meinung: Der Fall Joseph: Leitartikel: Der Ostdeutsche als Feindbild

Nun wissen wir mehr. Zwar steht die letzte Klarheit darüber, wie der kleine Joseph zu Tode gekommen ist, noch aus.

Nun wissen wir mehr. Zwar steht die letzte Klarheit darüber, wie der kleine Joseph zu Tode gekommen ist, noch aus. Aber die Beweise und Ansichten, auf die sich die Nachrichten von seiner förmlichen Hinrichtung durch Rechtsradikale gestützt haben, sind innerhalb weniger Tage so spektakulär in sich zusammengebrochen, dass jedenfalls das Medien-Waterloo perfekt ist. Zurück bleiben der blamierte Journalismus, eine beleidigte Stadt und - auf den Internet-Seiten, aber auch in den Zeitungsarchiven - die Zeugnisse von schlimmen Ressentiments und beschämender Ignoranz. Nutzen wir die Chance, klüger zu werden?

Zu der medialen Niederlage kommt hinzu, dass sie auch ein Desaster für unser Bild des Ostens ist. Es waren ja gut eingeführte Ansichten, die die journalistische Neugierde auf die Strecke geschickt haben, auf der sie nun so gewaltig auf die Nase gefallen ist: Der Osten als Brutstätte des Rechtsradikalismus, immer noch demokratisch unzuverlässig, weil belastet mit den Folgen autoritärer Erziehung. Es ist ein Fall von fahler Ironie, dass ausgerechnet der Kriminologe Pfeiffer - der mit den Töpfchen - hier zum Kronzeugen wurde.

Und trifft es denn nicht zu, dass der Osten anfällig gegenüber dem Rechtsextremismus ist? Wir kennen die Umfragen, die die Symptome des autoritären Charakters im Gemüt der Ostdeutschen nachweisen. Die Berichte von der Fremdenfeindlichkeit sind nicht erfunden. Nein, wir haben keine Gespenster gesehen. Aber wir hätten anderes sehen können und müssen. Man hätte ja auch erkennen können, dass sich in den neuen Ländern in den vergangenen zehn Jahren ein Demokratie-Wunder ereignet hat - der Aufbau von Gemeinderäten, Parlamenten, Verwaltungen. Statt sich dem wohlfeilen Spott hinzugeben, hätte man entdecken können, dass die neuen Länder tatsächlich aufgeblüht sind. Und vielleicht hätte man auch etwas mehr zur Kenntnis nehmen können, wie sich eine Region trotz Kulturschocks und miserabler wirtschaftlicher Situation aufrappelt.

Mag sein, dass wir dann auch nicht auf die Idee gekommen wären, die Tataren-Meldung eines ausgewiesenen Revolver-Blattes sogleich für die Wahrheit einer Stadt zu nehmen, die bis dahin kaum einer kannte. Dann wären die Rechtsradikalen, die dort in die Kamera liefen, das, was sie, vermutlich, sind: Randerscheinungen einer Kleinstadt in einer entlegenen Ecke des Landes, die unter dem Druck von Lage und Abwanderung lebt. Es geht nicht darum, den Osten schön zu malen. Es geht darum, seine Wirklichkeit wahrzunehmen. Und zu begreifen, dass er trotzt, wenn ihm ein Bild übergestülpt wird, in dem er sich nicht wiedererkennt.

Gewiss, es ist nicht leicht, den neuen Ländern gerecht zu werden. Der Blick auf sie muss vieles zusammenbringen: erneuerte Innenstädte und verödete Dörfer, erfolgreiche Gründungen, Zeugnisse einer alten Mentalität - und den Rechtsextremismus. An dieser Aufgabe versagt der Westen - übrigens auch, zu seinem Teil, der Osten. Sehr ermutigend sind aber auch die Debatten nicht, die dem Desaster folgen. Die Ostdeutschen haben, endlich, einen richtigen Grund, sich gekränkt zu geben, und schlagen den Wessis deren Rechtsradikale um die Ohren. Und die Großinquisitoren des Kampfes gegen den Rechtsextremismus plagt weniger der Gedanke, dass da wohl irgendetwas falsch gelaufen sein muss, als die Sorge darüber, die eingeübten Positionen könnten in Frage gestellt werden.

Lehren aus Sebnitz? Schaun wir mal. Schon wird mit dem üblichen Getöse das nächste Schwein durchs Dorf getrieben, diesmal, umständehalber, ein Rind.

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