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Meinung: Der Globus rotiert

In der Schwäche des Westens sehen Russland, China und Indien ihre Chance

Der Chinese verweigert sich in Washington, der Inder präsentiert sich in aller Bescheidenheit in Berlin als neue Großmacht, und Gazprom droht, der EU den Gashahn abzudrehen: In diesen Tagen kann man live erleben, wie schnell sich die geopolitischen Gewichte in der Welt verändern. Die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde steigen aus eigener Kraft zu Wirtschaftsmächten auf. Und der steigende Ölpreis gibt einer schon fast abgedankten Weltmacht die zweite Luft – ein derart kraftstrotzendes Russland war man lange nicht gewohnt. Seit dem Ende des Kalten Krieges sah sich der Westen nicht mehr so herausgefordert.

Da gehen Russland und China eine Allianz ein, um den atomar aufrüstenden Iran zu schützen. Gemeinsam verhindern sie auch Sanktionen gegen den völkermordenden Sudan. Man könnte den allmählichen Bedeutungsverlust des Westens als unausweichliche Pendelbewegung der Geschichte akzeptieren – wenn nicht so deutlich wäre, dass das autoritäre Russland und das diktatorische China keine wirklich besseren Ordnungskonzepte anzubieten haben. Allein Indien scheint verantwortungsvoller mit der ihm zuwachsenden Macht umgehen zu wollen.

Nun ist der Niedergang des Westens zum größten Teil hausgemacht. Europa hatte sich nach dem Ende des Kalten Krieges weitgehend aus der Geschichte verabschiedet und allein in seiner unmittelbaren Peripherie in Osteuropa und – viel zu spät – auf dem Balkan Gestaltungswillen gezeigt. Ansonsten hat man auf die Friedensdividende gehofft, die Militärausgaben zurückgestutzt und sich mit sich selbst beschäftigt. Die Amerikaner wiederum haben erst mit dem 11. September begonnen, den Führungsauftrag in Gänze auszufüllen, den ihnen das Ende des Ost- West-Konflikts bescherte. Sie haben dies aber dann auf solch plumpe und ungeschickte Art getan, dass sie ihren „unipolaren Moment“ fast schon wieder verspielt haben. Kaum je ist ein umfassender Machtanspruch so schnell an die Grenzen der Machbarkeit gestoßen wie im Irakkrieg.

Auch Europa präsentiert sich heute in schlechter Verfassung. Die EU hat sich weder aus der Identitätskrise nach dem Scheitern des neuen EU-Vertrages befreit, noch scheinen die großen Volkswirtschaften des Kontinents in der Lage zu sein, ihre Reformlähmung zu überwinden. Frankreich kapituliert nach vorsichtigen Neuerungsversuchen vor den Etatisten auf der Straße, Deutschland diskutiert über Steuererhöhungen statt über eine dynamischere Wirtschaft und einen schlankeren Staat. Und Italien droht nach den Jahren der Stabilität, in denen nichts voranging, nun in die Jahre der Instabilität zu verfallen, in denen das Land ebenso wenig vorankommen wird. Selbst Großbritannien schwächelt ein bisschen: Der Wettbewerbsvorteil, den die Konservativen New Labour hinterließen, scheint ob der neulichen Freude des britischen Schatzmeisters an Staatsausgaben zunehmend zu schwinden. Der Kontinent kommt weder jung noch dynamisch daher – und bietet seiner Jugend immer weniger Zukunft. Anstatt Globalisierung als Herausforderung anzunehmen, würde sich der Kontinent am liebsten hinter einer Maginot-Linie des Protektionismus eingraben.

Dabei ist es bei Licht besehen eigentlich zu früh, Abgesänge auf den Westen anzustimmen. Noch verfügen die klassischen Industriestaaten über einen Vorsprung an Wirtschaftskraft und Know-how, die Demokratie ist immer noch die Regierungsform, die Wohlstand am besten verteilt, soziale Spannungen verringert, Korruption am geringsten hält und am ehesten in der Lage erscheint, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Die anderen haben sich aber einiges abgeschaut. Indien und China haben gelernt, dass eine freie Marktwirtschaft zu wirtschaftlicher Dynamik und Wohlstand führt. Und sie haben verstanden, was den Westen groß gemacht hat: ein hervorragendes und breit angelegtes Bildungssystem. (Das beherzigt China übrigens besser als Indien, wo es an Breite mangelt, nicht an Exzellenz in der Spitze.)

Was beide Nationen besonders Europa voraushaben, sind Zukunftsoptimismus, Leistungsbereitschaft und ein überwältigender Ehrgeiz, in dieser Welt etwas zu bewegen. Gewinnen die Europäer nicht ihre mentale Stärke zurück, werden sie in ein paar Jahrzehnten Geschichte nur noch erleiden, anstatt sie selbst mitzugestalten.

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