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Meinung: Der Holocaustneid

Die Sudetendeutschen wollen auch Opfer eines Völkermordes sein Von Henryk M. Broder

Am kommenden Wochenende begehen die Sudetendeutschen wieder ihr traditionelles Pfingstfest. In diesem Jahr stehen die „Sudetendeutschen Tage“ unter dem Motto: „Vertreibung ist Völkermord – dem Recht auf die Heimat gehört die Zukunft“. Die Treffen der Sudetendeutschen waren immer zweierlei: kollektive Erinnerung an die alte Heimat und politische Kundgebungen.

Kamen die Teilnehmer von 1950 bis 1957 ohne ein Motto aus, gibt es seit 1958 jedes Jahr eine andere Losung: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ (1961), „Versöhnung ja – Verzicht nein“ (1964), „Dank an Bayern“ (1974), „Gerechtigkeit schafft Frieden“ (1986), „Vertreibung überwinden – Ausgleich schaffen“ (2005). Das klang moderat und widersprach dem Klischee der rachelüsternen Revanchisten, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen.

Und nun, drei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, werden die Sudetendeutschen auf einmal radikal. Sie behaupten, Opfer eines Völkermordes zu sein, der offenbar bis heute anhält. Das ist so wahr, wie es wahr ist, dass die Erde eine flache Scheibe ist, die in Sülze schwimmt. Und sogar dann, wenn es zuträfe, müsste man fragen, warum die Sudetendeutschen nicht eher darauf gekommen sind.

Nun hat jeder, der vertrieben wurde, ein subjektives Recht auf Maßlosigkeit. Wer auf der „Gustloff“ war und die Katastrophe überlebt hat, ist nicht verpflichtet, sein Schicksal zu relativieren und zu sagen: Auschwitz und Gulag waren schlimmer. Nein, er darf sich in den Mittelpunkt der Weltgeschichte stellen. Aber wenn es seine Kinder und Enkel tun, dann leiden sie unter Realitätsverlust. Oder sie wollen an einem makabren Wettbewerb teilnehmen. Denn mit weniger als einem „Völkermord“ will sich heute kaum jemand zufrieden geben, dem die Geschichte übel mitgespielt hat.

Die absoluten Champions in diesem Wettbewerb sind die Palästinenser, etwa 800 000 wurden bei der Gründung Israels aus ihrer Heimat vertrieben, heute sind es vier Millionen, die sich als Opfer eines Völkermordes fühlen und die Rückkehr zum Status quo ante verlangen. Es ist der erste Völkermord in der Geschichte, dessen Opferzahl sich im Laufe der Zeit verfünffacht hat.

Daran nehmen sich die Sudentendeutschen ein Beispiel – indem sie „Vertreibung ist Völkermord“ rufen und ganz ungeniert gegen das 11. Gebot verstoßen: „Du sollst nicht vergleichen und schon gar nicht gleichsetzen“, weder die Konzentrationslager der Nazis mit denen der Sowjets, noch die Kamikazeflieger der Japaner mit den lebenden Bomben des Dschihad.

Damit liegen die Sudetendeutschen voll im Trend. Erstens verstoßen sie gegen ein „Tabu“, und zweitens geben sie einem Gefühl freien Lauf, das man als „Holocaustneid“ klassifizieren könnte. Bis vor kurzem war der Begriff „Holocaust“ exklusiv von den Juden besetzt, sie waren auch in dieser Beziehung das „auserwählte Volk“. Dann kam das Wort vom „Bombenholocaust“ auf, und nun wird der „Völkermord“ vergesellschaftet. Während die Armenier seit über 90 Jahren darauf warten, als Opfer eines Völkermordes anerkannt zu werden, melden die Sudetendeutschen ihre Ansprüche an. Besser spät als nie, und was den Juden recht ist, kann ihnen nur billig sein. Der Holocaust ist für alle da! Welcome to the club!

Dabei gibt es einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen der Vertreibung der Sudetendeutschen und dem Völkermord an den Juden. Die Vertriebenen können ein neues Leben anfangen, die Ermordeten nicht. Die einen sind traumatisiert, die anderen haben nicht einmal Albträume. „Vertreibung als Chance und Neubeginn“: Das wäre doch ein schönes Motto für das nächste Heimattreffen der Sudetendeutschen.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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