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Meinung: Der Rat der Weisen: Leitartikel: Der Blick nach vorn ist eher skeptisch

Die Bundesregierung sieht sich von den Sachverständigen in ihrer Politik bestätigt. Das kann nur ein Missverständnis sein.

Die Bundesregierung sieht sich von den Sachverständigen in ihrer Politik bestätigt. Das kann nur ein Missverständnis sein. Zwar loben die Fünf Weisen in ihrem Jahresgutachten Steuerreform und Haushaltsdisziplin von Hans Eichel. Sie erkennen auch die gute Absicht Walter Riesters für einen Systemwechsel bei der Finanzierung der Rente an. Der Rest aber ist Schelte. Schlimmer noch: Das Lob des Rates bezieht sich auf Reformen, die zurückliegen. Die Kritik jedoch trifft Vorhaben, die noch kommen. Oder besser - die aller Voraussicht nach in dieser Legislaturperiode nicht mehr kommen werden: grundlegende Reformen des Arbeitsmarktes, eine radikale Kursänderung im System der Altervorsorge und die Einführung von mehr Wettbewerb bei den Krankenversicherern.

Schon die nüchterne Betrachtung der Zahlen müsste den Kanzler und die Regierung irritieren. Amerika ist nach wie vor - nach einem berühmten Diktum Leo Trotzkis - der Ofen, in dem die Weltwirtschaft geschmiedet wird. Allenfalls die Metapher müsste heutzutage getauscht werden: Das amerikanische Wachstum spinnt das Netz, das die New Economy zusammenhält. Um 5,2 Prozent wächst die amerikanische Wirtschaft im Jahr 2000. Selbst wenn das US-Tempo - nach der Prognose der Sachverständigen - im kommenden Jahr auf 3,2 Prozent zurückgeht, übertrifft diese Zahl immer noch alle europäischen Erwartungen für den gleichen Zeitraum. Was für Amerika schon eine "weiche Landung" der Konjunktur bedeutet, bleibt allemal robuster als das, was hierzulande zu erwarten ist. Aus der Traum: Europa wird auf absehbare Zeit Amerika nicht überholen. Und Deutschland fällt selbst gegenüber dem geringen Wachstumsdurchschnitt vieler anderer europäischer Länder zurück.

Dabei ist das Nachhinken des Kontinents keine Naturgegebenheit. Im Gegenteil: Wirtschaftliche Kreativität wäre möglich, Wachstum aus eigener Kraft wäre denkbar. Die zunehmende Paralyse der Regierungskoalition, welche zudem von einem Netz mächtiger Interessengruppen in ihrer Handlungsfreiheit bedrängt wird, macht alle Wetten auf wachsende Dynamik zu einer riskanten Angelegenheit. Oder möchte jemand darauf spekulieren, dass diese Koalition sich für eine Verlängerung der Erwerbstätigkeit bis zum 67. Lebensjahr ausspricht? Die Sachverständigen tun das. Kann sich jemand vorstellen, dass Rot-Grün die Einführung der Entfernungspauschale wieder zurücknimmt? Nicht wirklich. "Grundsätzlich bedenklich" sei eine Entfernungspauschale, heißt es im Gutachten, selbst wenn man eine Ökosteuer für angemessen halte.

Es ist gut, dass die Wirtschaftsweisen zum zentralen Beleg für den Reformdruck die desolate Lage am Arbeitsmarkt nehmen. Gerade angesichts verhalten positiver Konjunktur ist eine Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent ein Skandal. Der Sachverständigenrat nennt Therapievorschläge: Qualifikatorische Lohnspreizung heißt es vornehm im Gutachten. Im Klartext: Entmachtung der Gewerkschaften und Verbände durch eine Gesetzesänderung, welche deren Privilegierung bei der Lohnfindung aufhebt. Pflichtgemäß hat der Sachverständige Jürgen Kromphardt, der auf Vorschlag der Gewerkschaften im Rat sitzt, sich schriftlich von diesem Vorschlag distanziert.

Faktisch läuft die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung auf das geaue Gegenteil der Ratsideen hinaus: Die Verneigung vor den Gewerkschaften nimmt zu. Wer ein Recht auf Teilzeitarbeit zum Gesetz machen und die Betriebsverfassung ausweiten will, der macht sich jener fortdauernden Zielverfehlung am Arbeitsmarkt schuldig, welche die Weisen geißeln. Offenbar hat die Regierung der Mut verlassen, der ihr vor Monaten die richtige Einsicht gab, dass eine Öffnung des Arbeitsmarktes und verstärkte Zuwanderung Garanten für nachhaltiges Wachstum sein können. Nicht Migration, sondern fehlende Mobilität der Einheimischen und die Höhe ihrer Lohnansprüche verursachen Arbeitslosigkeit.

Das Motto des Gutachtens sieht "Chancen auf einen höheren Wachstumspfad". Aber das meint wohl schon den Zeitraum nach den nächsten Wahlen. Es hat sich in Deutschland fürs Erste ausreformt.

Rainer Hank

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