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Der Wutbürger

© Illustration: Reiner Schwalme

Der Staat sind wir: Über den Frust der Wutbürger

Die politische Klasse hat sich befreit von der Bindung an Normen, die für alle gelten. Muss dann nicht wenigstens ziviler Ungehorsam erlaubt sein?, fragt Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim. Ein Essay.

Die wahrgenommene Kluft zwischen Berufspolitikern und Volk wird immer größer. Das Wort „Wutbürger“ ist in aller Munde. Diese Situation ruft geradezu danach, das Thema Widerstandsrecht etwas genauer zu beleuchten.

Dabei soll unter „Widerstand“ ein Agieren der Bürger gegen die Herrschenden, ein Auflehnen gegen Unrecht, gegen Gemeinwohlverstöße und anderes illegitimes Handeln verstanden werden.

Ursprünglich ging es um Widerstand gegen Tyrannen, gegen absolutistisch-diktatorische Regime. Bei uns heute sind dagegen alle die Errungenschaften der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie im Grundgesetz verankert und damit rechtlich festgeschrieben, für die früher Revolutionäre gestritten, gekämpft und gelitten haben. Dennoch findet sich auch hier ein Widerstandsrecht. Die Vorschrift wurde 1968 bei Erlass der Notstandsverfassung – sozusagen als Beruhigungspille – ins Grundgesetz eingefügt. Art. 20 Abs. 4 GG lautet:

„Gegen jeden der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Die Voraussetzungen („Ordnung beseitigen“) sind allerdings so eng, dass die herrschende Staatsrechtslehre der Vorschrift lediglich eine Symbolfunktion zuerkennt.

Neben dem Widerstand gegen ein diktatorisches Regime kennen wir auch den „kleinen Widerstand der Normallage“, wie der Staatsrechtslehrer Ralf Dreier das einmal genannt hat, und viele Formen dieses kleinen Widerstandes gestatten das Grundgesetz und die Landesverfassungen ausdrücklich. Dabei geht es dann nicht um Revolution, sondern um das Einfordern von Reformen.

So ist der Widerstand mit Wort und Feder durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien und der Wissenschaft garantiert. Die Kritik von Missständen sollte eine Hauptaufgabe von Journalisten und Intellektuellen sein und besonders zum Wesen des Professorenamts gehören. Womit wollte man sonst den privilegierten Status des staatsfinanzierten, mit wissenschaftlicher Freiheit ausgestatteten Lebenszeitbeamten rechtfertigen? Das hatte wohl auch Ernst Fraenkel im Sinn, einer der theoretischen Gründungsväter an der Wiege der Bundesrepublik. Fraenkel schrieb:

Die Wissenschaft vom Staat und von der Politik sei „kein Geschäft für Leisetreter und Opportunisten“. Eine Wissenschaft, „die nicht bereit ist, ständig anzuecken, die ... davor zurückschreckt, Vorgänge, die kraft gesellschaftlicher Konvention zu arcana societatis erklärt worden sind, rücksichtslos zu beleuchten“, habe „ihren Beruf verfehlt“.

Ganz wichtig ist auch das Demonstrationsrecht, das Art. 8 GG garantiert. Die breite Berichterstattung über Stuttgart 21 hat den Menschen überall Mut gemacht, nicht mehr alles über sich ergehen zu lassen. Auch die „Occupy Wall Street“-Bewegung gehört hierher.

In Indien war erst kürzlich ein alter Mann, Anna Hazare, in den Hungerstreik getreten, weil das neue indische Antikorruptionsgesetz Spitzenpolitiker von der Strafbarkeit ausnahm. Hazare entfachte eine ganze Volksbewegung, so dass die Regierung schließlich versprach, die Gesetzeslücke zu schließen. In Deutschland ist die Lage – wenn auch auf deutlich niedrigerem Korruptionsniveau – gar nicht so unähnlich. Man kann einem deutschen Abgeordneten Geld oder sonstige Vorteile anbieten – und riskiert in der Regel nicht mehr, als dass der einen rauswirft. Dabei fordert eine – eigentlich für Bananenrepubliken gedachte – Antikorruptions-Konvention der Vereinten Nationen Deutschland seit langem auf, einen wirksamen Straftatbestand gegen die Korruption von Abgeordneten zu erlassen, bisher erfolglos.

Welche legalen und legitimen Mittel des Widerstandes gibt es? Wie effektiv sind sie?

Der Widerstandsersatz-Charakter von Volksentscheiden ist dann offensichtlich, wenn die Initiative von unten kommt, durch Volksbegehren aus der Mitte des Volkes. Derartiges gibt es bisher nur in Kommunen und Ländern. Auf Bundesebene werden Volksbegehren und Volksentscheid den Bürgern vorenthalten. Auch der Mitgliederentscheid innerhalb politischer Parteien kann, wenn er nicht „von oben“ initiiert ist, ein Instrument des Widerstandes sein. Ein Beispiel lieferte gerade die FDP mit der Initiative des Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler gegen weitere Rettungsmaßnahmen für überschuldete Euro-Staaten.

Eigentlich müsste auch die Möglichkeit, Politiker abzuwählen bzw. nicht wieder zu wählen, ein Mittel des Widerstandes sein. Karl Popper erblickt geradezu das Wesen der Demokratie darin, schlechte Politiker ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Aber besitzen wir in der Bundesrepublik eigentlich diese Möglichkeit? Können nicht eigentlich abgewählte Regierungschefs durch geschickte Koalitionspolitik ihre Stellung doch behaupten? Nicht einmal unfähige Bundestages- oder Europaabgeordnete kann der Wähler wieder loswerden, solange die Partei an ihnen festhält und sie bei Wahlen auf sichere Listenplätze setzt oder in sicheren Wahlkreisen aufstellt.

Ein anderes Mittel des kleinen Widerstandes der Normallage sind Klagen vor Verfassungsgerichten. Eine hatte ich selbst gegen die Europawahl von 2009 erhoben, unter anderem wegen Verfassungswidrigkeit der 5-Prozent-Klausel. 30 Verfassungsrechtsprofessoren und 500 weitere Bürger waren meiner Klage beigetreten. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. November 2011 die Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt. Künftig werden Europawahlen für uns Deutsche ein wenig mehr Demokratie ermöglichen.

Bemerkenswerter fast noch als das Ergebnis ist die Begründung des Urteils. Denn sie markiert fast so etwas wie eine kopernikanische Wende der Rechtsprechung zu Wahlen, die der zuständige Zweite Senat nun endgültig vollzogen hat, nachdem er und die Landesverfassungsgerichte bereits die 5-Prozent-Klausel bei Kommunalwahlen für verfassungswidrig erklärt hatten. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert nunmehr sehr viel schärfer als früher:

Da der Wahlgesetzgeber „in eigener Sache tätig“ werde, bestehe die Gefahr, dass er „sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten“ lasse und „die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte“. Deshalb unterliege die 5-Prozent-Klausel „einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“.

Dass die Parteien und Abgeordneten, wenn es um Machterhalt geht, nicht unbefangen sind (was die Abweichler im Zweiten Senat Udo di Fabio und Rudolf Mellinghoff und der Bundestagspräsident Norbert Lammert bestreiten), sieht man auch an der Beibehaltung von Überhangmandaten im soeben verabschiedeten neuen Bundeswahlgesetz. Die Regierungsparteien, die 2009 24 Überhangmandate erhalten hatten, nutzten ihre Mehrheit, um daran festzuhalten und ihre Chancen auch bei der nächsten Bundestagswahl zu verbessern, während die Opposition sie beseitigt sehen möchte. Nach der Botschaft, die das 5-Prozent-Urteil aussendet, dürfte es nunmehr fast sicher sein, dass das Gericht auch das neue Bundeswahlgesetz aufheben wird.

Häufig kann der Bürger selbst gegen grobe Verfassungsverstöße allerdings gar nicht klagen. Dabei geht es nicht nur um die überzogene Altersversorgung vieler Politiker, um steuerfreie Bezüge, um die verfassungswidrige Selbstbewilligung von Extra-Diäten, um die fehlende Strafbarkeit von Abgeordnetenkorruption oder das unkontrollierte Aufblähen von Fraktionen und persönlichen Mitarbeitern von Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen, das sich inzwischen auf über 400 Millionen Euro im Jahr beläuft.

Die politische Klasse schottet sich von den Bürgern ab und bildet eine neue Form des Absolutismus.

Fasst man das Ganze ins Auge, so erkennt man eine politische Klasse, die sich nach dem Motto „der Staat sind wir“ von den Bürgern abschottet und eine neue Form des Absolutismus bildet, einen parteienstaatlichen Absolutismus: Die politische Klasse ist auf höchst raffinierte Weise „legibus absolutus“, das heißt von der Bindung an die für alle geltenden Normen befreit. Formal unterliegt sie zwar den Gesetzen. Doch die macht sie selbst – in ihrem Sinne. Formal unterliegt sie auch dem Grundgesetz. Doch das kann sie ändern, und die Richter, die das Grundgesetz auslegen und damit verbindlich erklären, was es besagt, bestimmt sie selbst nach ihren Vorstellungen – und äußert öffentliche Entrüstung, wenn das Gericht mal nicht „spurt“. Zudem wird den Bürgern, die Verfassungswidriges vors Gericht bringen wollen, oft die Klagebefugnis vorenthalten – nach einer Prozessordnung, über die wiederum die politische Klasse disponiert. Im Wettrennen von Hase und Igel gleicht das Volk dem Hasen.

Hierher gehören auch die Entwicklungen in der Europa- und Währungsunion, insbesondere die Verletzungen des EU-Rechts bei der Entstehung der Euro-Krise und bei den Versuchen, sie zu bewältigen. Das Bundesverfassungsgericht hat es in seinem Rettungsschirm-Urteil vom 7. September 2011 abgelehnt, darüber zu entscheiden, ob der Rettungsschirm gegen Europarecht verstößt, obwohl dies ziemlich offensichtlich ist, und zum Europäischen Gerichtshof haben Bürger und Steuerzahler kein Klagerecht.

Eine Widerstandssituation könnte vor allem bei der Entäußerung gewichtiger weiterer Kompetenzen aktuell werden. Diese ist unter dem Grundgesetz nämlich nicht unbegrenzt möglich, weil die deutsche Demokratie sonst ihr Wesen aufgäbe (was die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG verbietet). Dafür bräuchte es eine neue Verfassung gemäß Art. 146 GG, die ihrerseits nicht ohne Volksentscheid in Kraft treten könnte. So hat jedenfalls das Bundesverfassungsgericht entschieden, zuletzt im Lissabon-Urteil von 2009. Von Eingriffen in die „integrationsfeste Verfassungsidentität“ scheint die offizielle Politik aber gar nicht mehr allzu weit entfernt. Dagegen könnte allerdings das Gericht angerufen werden, so dass „andere Abhilfe“ im Sinne des Art. 20 Abs. 4 möglich erscheint. Wie aber, wenn das Gericht, wenn es zum Schwur kommt, „einknicken“ und seine bisherige Rechtsprechung verleugnen sollte (worauf manche hoffen)? Könnte man dann zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich eine Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG droht?

Selbst wenn man das verneinen sollte, ist das Thema „Widerstand“ keineswegs erschöpft. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich auch ein Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtswidrigkeiten erwogen. Ein solches Widerstandsrecht könnte (mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Willi Geiger) mit Art. 1 Abs. 2 GG begründet werden. Darin bekennt sich das deutsche Volk zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die, früher jedenfalls, auch ein Widerstandsrecht gegen Verfassungsverstöße beinhalteten.

Welche Formen des Widerstandes kommen infrage? Damit wird erst recht juristisches Neuland betreten, was über einen Zeitungsbeitrag weit hinausgeht. Immerhin erscheint es angebracht, an den sogenannten zivilen Ungehorsam zu erinnern. Dabei geht es – unter bestimmten Voraussetzungen – „nicht um eine faktische Verhinderung des Protestanlasses, insbesondere nicht um eine effektive Lähmung staatlicher Funktionen, sondern um ein dramatisches Einwirken auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung“ (Bundesverfassungsgericht). Ziviler Ungehorsam ist – jedenfalls im Allgemeinen – rechtswidrig. Gerade durch die ostentative Inkaufnahme entsprechender Sanktionen soll ja besonders nachhaltig auf den öffentlichen Prozess eingewirkt werden.

Wenn nun aber schwere Rechtswidrigkeiten der Staats- und EU-Organe vorliegen, gegen die der Bürger keine Klagemöglichkeit zu den Gerichten besitzt, muss dann nicht wenigstens ziviler Ungehorsam möglich sein, der dann gerade nicht rechtswidrig, sondern in Wahrnehmung des Widerstandsrechts erlaubt wäre?

Die Existenz von Widerstandsrechten ist allerdings nur notwendige Voraussetzung, reicht aber noch lange nicht hin. Von den Rechten auch Gebrauch zu machen, verlangt zusätzlich eine bestimmte innere Haltung, die man kurz mit Gemeinsinn und Zivilcourage umschreiben kann. Wie wir uns auch drehen und wenden: Wir kommen an der Erkenntnis nicht vorbei, dass die Durchsetzung der nötigen Verbesserungen unseres Gemeinwesens „unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, dass auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde“ (Karl Popper). Politik ist nun mal zu wichtig, als dass man sie allein Berufspolitikern überlassen dürfte.

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