zum Hauptinhalt

Meinung: Der Tod war sein Richter

Slobodan Milosevic wurde der Prozess gemacht, allein das zählt / Von Richard Holbrooke

Vor wenigen Tagen starb der ehemals starke Mann Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, in seiner Zelle in Den Haag. Seit fünf Jahren lief der Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher. Seit dessen Tod nun setzen die Medien, besonders die TV-Kabelkanäle, auf eine einfache Geschichte. Der von den Marktgesetzen getriebene moderne Journalismus will offenbar, dass jede größere Nachricht in eine Erzählung gepresst wird. Anstatt dem Leser die Fakten und den Kontext zu präsentieren, wird die Geschichte mit einer Pointe versehen, einem impliziten Standpunkt. Im Falle des Todes von Milosevic heißt sie recht simpel: Er wich der Gerechtigkeit aus, er verleugnete sie, ja betrog sie gar. Und wie tat er das? Die journalistische Antwort lautet: durch sein Sterben!

Was für ein Blödsinn! Der Mann starb in seiner Zelle. Er wusste, dass er nie wieder die Freiheit sehen würde. Das ist doch ein passendes Ende für jemanden, der vier Kriege vom Zaun brach (die er alle verlor), 300 000 Tote und mehr als zwei Millionen Obdachlose verursachte und den Balkan in Trümmern hinterließ. Die wahre Geschichte, wenn sie denn schon benötigt wird, ist die: Milosevic wurde zwar ein Urteil verwehrt, aber nicht die Gerechtigkeit.

Das sind die Fakten: Milosevic war der erste Staatschef in der Geschichte, der wegen seiner Verbrechen vor ein internationales Gericht kam. Dieses Schicksal blieb Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und unzähligen anderen erspart. Milosevic verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens im Gefängnis, er wurde gezwungen, sich tausende Stunden Zeugenaussagen über seine Taten und deren Konsequenzen anzuhören. Das Verfahren gegen ihn wurde live übertragen. Und die Zeugenaussagen sowie das vernichtende Video über das Massaker in Srebrenica, das während des Prozesses gezeigt wurde, zerstörten seine Reputation und halfen, die Wahrheit unter Serben zu etablieren – abgesehen von einigen wenigen pathetisch verbitterten.

Allein dieses Ergebnis war ein Erfolg für das Kriegsverbrechertribunal. Sicher stimmt es, dass das Verfahren zu langsam war. Dafür ist das Gericht verantwortlich. Muss ein Inhaftierter, dessen schlechter Gesundheitszustand bekannt ist, wirklich sterben, bevor irgendjemandem auffällt, dass das Verfahren unentschuldbar schleppend vorangeht? Aber jeder wusste, dass Milosevic niemals wieder einen Tag in Freiheit verbringen würde. Das Urteil hätte unweigerlich auf mehrmals lebenslänglich gelautet.

Dass das Verfahren überhaupt stattfand – ein Staatschef wird wegen seiner Kriegspolitik angeklagt, und er bekommt die Chance, sich vor aller Welt zu verteidigen –, überwiegt alle Einwände. Außerdem hatte es ganz praktische Folgen: Wäre Milosevic nicht nach Den Haag geschickt worden, hätte er seine Karriere in Jugoslawien fortgesetzt – mit verheerenden Folgen für den gesamten Balkan.

Wenn Journalisten tatsächlich Geschichten über verweigerte Gerechtigkeit auf dem Balkan suchen, sollten sie sich um die Schicksale von drei anderen Männer kümmern: Zoran Djindjic, Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Djindjic wurde serbischer Ministerpräsident, nachdem Milosevic gestürzt worden war. Er fällte die mutige Entscheidung, den ehemaligen Diktator 2001 ans Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auszuliefern. Dafür bezahlte Dindjic mit seinem Leben, vor genau drei Jahren wurde er von einem kriminellen Milosevic-Anhänger ermordet. Am vergangenen Sonntag nahmen in Belgrad mehr Menschen an einer Kerzenprozession für Djindjic teil, als für Milosevic auf die Straße gingen. Das allerdings wurde von den internationalen Medien kaum erwähnt.

Für verweigerte Gerechtigkeit gibt es indes keinen besseren Beleg als den: Zehn Jahre, nachdem das Dayton-Abkommen den Bosnienkrieg beendete, laufen Karadzic, der Führer der bosnischen Serben, der die meisten „ethnischen Säuberungen“ durchführte, und Mladic, der General, der hinter den Massenmorden in Srebrenica und anderswo steckte, immer noch frei herum. Das liegt am Versagen der Nato, die beiden Männer aufzuspüren. Und es liegt an jenen Serben, denen es nicht verwehrt wird, ihnen Unterschlupf zu bieten und sie zu unterstützen. Doch so lange Karadzic und Mladic frei sind, werden sie Widerstand inspirieren und den Wiederaufbau des Balkans behindern. Die Chefanklägerin in Den Haag, Carla del Ponte, hatte daher sicher Recht, nach dem Tode von Milosevic den Druck auf Belgrad und Brüssel zu erhöhen, die beiden Männer zu verhaften.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass Milosevic just zu dem Zeitpunkt starb, an dem die lange verzögerten Verhandlungen über den Endstatus des Kosovos begannen. Das Kosovothema, das Milosevic extrem nationalistisch ausschlachtete, hatte ihn an die Macht gebracht. Nun wird er kein lebender Schatten mehr sein, der über den Verhandlungen liegt. Deren Ergebnis wird unausweichlich die Unabhängigkeit des Kosovos bedeuten.

Für Bosnien indes ist das Hauptproblem nicht Milosevic, sondern Karadzic, der weiterhin jeden Versuch zu blockieren versucht, die Integration von Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen zu fördern. Dennoch gibt es Fortschritte. Die überfällige militärische Integration der drei Volksmilizen, die einst als unvorstellbar galt, hat begonnen. Aus diesem Grund und vielen anderen stimme ich nicht mit der europäisch-amerikanischen Position überein, die von der bosnischen Regierung als Vorbedingung für eine engere Zusammenarbeit mit der EU verlangt, Karadzic an das Kriegsverbrechertribunal auszuliefern. Sarajewo sollte nicht verantwortlich für etwas gemacht werden, das ausschließlich in der Hand seiner Feinde im serbischen Teil Bosniens liegt.

Nach seinem Aufstieg zur Macht mit seinen bösartigen Kosovo-Reden brach Milosevic Kriege gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien und Kosovo vom Zaun. Er verlor sie alle, bevor er im Herbst 2000 seine eigene Macht verlor. Dennoch war er, nach meiner Überzeugung, kein wirklicher Nationalist. Sein Hauptanliegen war die Macht – sie zu erlangen, sie zu erhalten. Er war ein raffinierter Opportunist. Im Tode wird er mit seinen ehemaligen Gegnern vereint: Tudjman aus Kroatien, Izetbegovic aus Bosnien, Rugova aus dem Kosovo. Von diesem schrecklichen, blutigen Jahrzehnt sind nur noch Karadzic und Mladic geblieben. Slobodan Milosevic beendete sein Leben allein in einer Zelle in Den Haag. Fünf Jahre lang hörte er Zeugenaussagen gegen sich an. Das scheint mir eine vernünftige und akzeptable Form von Gerechtigkeit zu sein.

Richard Holbrooke, ehemals US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, war der Architekt des Friedensabkommens von Dayton, das 1995 den Bosnienkrieg beendete. Er ist Kuratoriumsvorsitzender der American Academy in Berlin.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false