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Meinung: Der Truthahn macht den Unterschied

An Thanksgiving sitzen in den USA alle Familienmitglieder am Tisch – es sind viel mehr als bei uns

Heute wird wieder aufgetischt. Auf dem Tisch stehen: Truthahn, Schinken, Kartoffeln, Mais, Bohnen, Kürbiskuchen, Süßspeisen. Dann wird gefuttert, bis der Bauch platzt. Das Fest, an dem dies geschieht, heißt Thanksgiving. In Amerika wird es seit 1621 gefeiert. Damals saßen weiße, puritanische Siedler und rothäutige Wampanoag-Indianer einträchtig beisammen, um ein gutes Erntejahr kulinarisch abzuschließen. Seit 1941 ist Thanksgiving nationaler Feiertag. Zu keiner Zeit des Jahres, nicht einmal zu Weihnachten, wird so viel gereist. Alle machen sich auf den Weg – Oma und Opa, Tante und Onkel, Enkel, Geschwister, Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen. Denn Thanksgiving ist vor allem eines: Familientag.

Die amerikanische Familie ist ein Phänomen. Natürlich wird auch hier geliebt und gelacht, gelästert und intrigiert. Gelegentlich endet das „gesellige Beisammensein“ sogar in einem Krach. Trotzdem kommt die Verwandtschaft zusammen, jedes Jahr erneut. Kein Weg ist ihr zu weit, kein Aufwand zu groß. „Wie wichtig sind Ihnen eine gute Ehe und ein intaktes Familienleben?“ Mit dieser Frage werden alljährlich 50000 amerikanische Teenager konfrontiert. Mit „wichtig bis sehr wichtig“ antworteten in diesem Jahr knapp neunzig Prozent. Das sind Werte wie aus jener Zeit, die als Prä-68er gilt. Deren Kennzeichen war der Nierentisch.

Der erstaunlichste Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen Familie ist aber die Demographie. Die Geburtenrate in den USA schnellte im vergangenen Jahrzehnt steil nach oben. Sie liegt heute bei etwa 2,2 Kindern. Die amerikanische Gesellschaft wächst rapide, während die europäische schrumpft. Auf dem alten Kontinent liegt die Geburtenrate bei 1,3 – Tendenz: weiter abnehmend. Vor einem halben Jahrhundert gab es doppelt so viele West-Europäer wie Amerikaner. In 50 Jahren könnte das Verhältnis umgekehrt sein. Die britische Zeitschrift „Economist“ hat dieser „dramatisch unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung“ unlängst eine Titelgeschichte gewidmet. Im Vergleich dazu seien die Streitigkeiten über den Irak, Kyoto oder den Internationalen Strafgerichtshof nebensächlich, heißt es. In absehbarer Zeit werde das Durchschnittsalter der Amerikaner bei 36 Jahren, das der Europäer bei 52 Jahren liegen. Die amerikanische Gesellschaft verjüngt sich, hat dadurch höhere Bildungs- und niedrigere Arbeitsplatzkosten, die unternehmerische Risikobereitschaft bleibt groß. Die europäische Gesellschaft veraltet, die Folge sind niedrigere Bildungsausgaben, aber viel höhere Gesundheits- und Rentenkosten.

Die Gründe für diese Entwicklung sind unklar. Sie scheinen eher gesellschaftlicher als politischer Natur zu sein. Denn in Amerika ein Kind groß zu ziehen, ist teurer, riskanter und mühsamer als etwa in Deutschland. Fast alles verschlingt Unsummen: Krankenkosten, Kindergarten, Schul- und Universitätsausbildung. Eine Arbeitsplatzgarantie gibt es nicht, der Staat gewährt Unterstützung nur in Ausnahmefällen. Dennoch nimmt die Bereitschaft zum Kinderkriegen zu. Der Befund desillusioniert. Womöglich sind traditionelle Mittel der Familienpolitik – Kindergeld, Kindergartenplatz, Mutterschaftsurlaub – weit weniger wichtig, als vermutet.

Amerika ist ein religiöses Land. Doch das allein erklärt die demographische Diskrepanz nicht. Der „Economist“ vermutet als Grund ein höheres Vertrauen der Amerikaner in ihr Land. Das klingt paradox, wo doch die soziale Absicherung in Europa weitaus umfangreicher ist. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Eine gehörige Portion Gottvertrauen und Vaterlandsliebe sind offenbar ausreichend, um sich für das Bestehen von Nachwuchs-Abenteuern gewappnet zu fühlen. Die amerikanische Familie bleibt ein Phänomen, nicht nur zu Thanksgiving.

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