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Meinung: Der vergessene Beitritt

Die neue Türkei und das alte Europa haben sich weiter auseinandergelebt

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan wird vermutlich für immer der letzte Preisträger des Internationalen Gaddafi-Preises für Menschenrechte bleiben. Schließlich wird Muammar Gaddafi in Zukunft kaum die Muße haben, um über weitere würdige Kandidaten nachzudenken. Erdogan wird nicht viel Aufhebens um den Preis gemacht haben, als er am Freitag von den Nachfolgern Gaddafis auf dem Flughafen von Tripolis begrüßt wurde. Und auch über seinen Widerstand gegen eine Flugverbotszone und eine militärische Intervention des Westens wird er am Flughafen den Mantel des Schweigens gelegt haben.

Erdogans Türkei ist nicht das einzige Land, das im Rückblick zu eng mit dem Gaddafi-Regime zusammengearbeitet hat. Doch die Türkei hat länger als alle anderen gebraucht, um zu verstehen, dass der Diktator am Ende ist. Der türkische Libyen-Schwenk ist nur ein Beispiel für die prinzipienlose Außenpolitik des Landes: Erst als der syrische Präsident Assad in aller Öffentlichkeit Zivilisten erschießen ließ, rückte die Türkei von ihm ab (und behauptet nun, Assad schon immer zu Reformen gedrängt zu haben). Und kaum gerät Israel durch den arabischen Frühling unter Druck, distanziert sich die Türkei flugs von ihrem politischen Partner – offenbar weil die Machtverhältnisse im Nahen Osten sich verändert haben.

Der Streit seines Landes mit Jerusalem wäre gelöst, sagt der türkische Präsident Abdullah Gül im Interview, wenn Israel sich entschuldigen würde. Offenbar geht es der Türkei nicht um Gaza oder Israel, sondern um Respekt. Respekt aber ist keine sinnvolle außenpolitische Kategorie, am wenigsten im ohnehin über alle Maße emotional aufgeladenen Nahostkonflikt.

Dass Präsident Gül auf dem Höhepunkt einer solch erratischen und affektgeladenen Politik nach Deutschland kommt, ist ein günstiger Moment, um ihn respektvoll darauf hinzuweisen, dass sein Land ein außenpolitisches Rad dreht, das eine Nummer zu groß ist.

Dabei wird die Kanzlerin auf das Druckmittel EU-Beitritt verzichten müssen – von diesem wird sich Gül kaum noch einschüchtern lassen. Die Euro-Krise, die eine Krise der gesamten Union ist, hat dafür schon zu viel Ernüchterung hinterlassen. Dass, wie Gül sagt, beides gut zusammenpassen würde – das kränkelnde Alt-Europa und die wirtschaftlich dynamische Türkei –, mag auf dem Statistikbogen zutreffen: Doch so bald werden sich die Europäer nicht noch einmal von den Statistiken eines Beitrittskandidaten überzeugen lassen. Die Griechen, man mag das ironisch finden, haben so die Chancen der Türken, Mitglied der EU zu werden, erheblich geschwächt.

Gleichzeitig hat sich auch der Blick der Türkei in diesem Moment der sich verschiebenden Kräfte geweitet. Das Land ist mehr denn je hin- und hergerissen zwischen Europa und der arabischen Welt, zwischen Machtbewusstsein und Bescheidenheit.

Die jüngsten Ereignisse haben Europa und die Türkei auseinandergetrieben. Der Besuch von Präsident Gül, eingeklemmt zwischen Berlin-Wahl und Papst-Besuch, wird an dieser neuen Unberechenbarkeit der beiden Seiten derzeit nicht viel ändern.

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