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Meinung: Der verlorene Zauber

Die Deutschen haben sich die Freiheit abhandeln lassen – im Osten wie im Westen. Doch Sicherheit macht nicht glücklich.

Einen Mentalitätsbruch verlangt der Kanzler von seinem Volk. Es soll eine neue Richtung einschlagen, freiwillig, aber flott: Statt sich auf das Gemeinwesen zu verlassen, sich in die Arme der Gesellschaft zu stürzen, soll der Einzelne künftig erst einmal fragen, was er selbst tun kann. Und erst dann die Allgemeinheit um Hilfe bitten.So ist es in der Sozialreform Hartz IV angelegt – nach diesem Motto soll künftig jeder Mitnahmementalität der Garaus gemacht werden. Und wenn die Politik die Kraft zu entsprechenden Entscheidungen nicht mehr findet in den kommenden zwei Jahren, dann soll das Volk bitte schon mal weitergehen auf dem Weg der Entsagung, empfiehlt der Chef der operativen Politik Deutschlands harsch.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Kanzler so zu seinem und über sein Volk spricht. „Ich kann nur diese Politik. Ich kann für keine andere Politik stehen", hat Gerhard Schröder vor wenigen Wochen gesagt. Und gemeint hat er: Es gibt keine Alternative zu einer Politik, die dem Einzelnen mehr Freiheit zumutet und ihm weniger Sicherheit bietet.

Nicht zufällig klingt dieser Satz nach Martin Luther. Nicht zufällig zitiert er schwerste Gewissensnot in der Schicksalsstunde. Das dazu gehörige Bekenntnis ist, setzt man es mit seiner historischen Aufladung in eine echte Beziehung, zwar ein bisschen mickrig. Doch angesichts eines Landes, das lieber weniger frei, dafür aber noch sicherer wäre, ist es mutig. Es geht um die Sezession, um den Abfall vom alten Staat, vom alten Glauben. So wird es auch verstanden in der SPD. Das allein ist erschreckend genug. Dazu aber kommt der Unterton des „Wenn ihr einen anderen Weg wollt, dann müsst ihr euch dafür auch einen anderen suchen." So mutig ist man denn doch nicht in der SPD.

Dasselbe Phänomen, ein anderer Anlass: Auch der Bundespräsident mahnte das Land, aus lauter Nachdenken über ein einiges und gleiches Deutschland nicht zu vergessen, dass es auch ein freies Deutschland sein muss, in dem wir leben. Horst Köhler sagte, dass der Wunsch nach wirtschaftlicher Gleichheit eine Illusion ist. Eine Provokation, über deren Wahrheitsgehalt sich schnell alle verständigen konnten.

Der Kanzler hat Recht, der Präsident hat Recht. Aber: Kann man es aussprechen im Land der schnell verletzten Gefühle, dass Gleichheit nicht Unterschiedslosigkeit sein darf? Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Darf man nicht.

Konzentriert man sich auf die Substanz der Schlacht um mehr oder weniger wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Freiheit, bleibt man eher ratlos. Denn klar ist: Auch mit den Sozialreformen, die Hartz I bis IV heißen, bleibt Deutschland ein Wohlfahrtsstaat. Auch mit den Kürzungen und Verschärfungen von Sozialstandards bleibt das Land ein Gemeinwesen, das mehr als fünfzig Prozent seiner gesamten Leistung über den Staat umverteilt. Unabhängig davon, ob man glaubt, dass das Geld immer in die richtigen Taschen findet, dokumentiert allein diese Quote ein gewaltiges Zutrauen in einen Staat, der offenbar trotz alledem und alledem vieles besser kann und besser macht als es der Einzelne könnte.

Das ist erstaunlich. Die Verbitterung, die den Repräsentanten dieses Landes neuerdings entgegenschlägt, ließe eher vermuten, dass man ihnen lieber überhaupt nichts mehr anvertrauen würde.

Nicht nur in wirtschafts- und verteilungspolitischen Angelegenheiten trauen wir dem Gemeinwesen mehr zu als uns selbst. Auch in unserem Bedürfnis nach individuellen Freiheiten, nach Handlungsfreiheit, Liberalität fragen wir erst einmal,was gewünscht ist, bevor wir unsere Freiheit selbst definieren. Als unveräußerliches Recht steht sie im Grundgesetz, Max Weber erkannte in seiner Antrittsvorlesung in Freiburg im Jahr 1895 die Sehnsucht nach Freiheit als das Motiv der Landarbeiter, die ein sicheres Leben in Knechtschaft aufgeben und auswandern. Der Freiheit galten die Montagsdemonstrationen in der DDR.

Und jetzt? Vergessen. Oder besser: verkauft. Die Vereinigung in Freiheit, wie sie von Helmut Kohl und Willy Brandt bezeichnet wurde, hat unter dem Strich Freiheit gekostet. Zuerst haben die Ostdeutschen sich gerade erstrittene Freiheiten abhandeln lassen. Schon nach wenigen Wochen offener Grenzen war klar, dass das Westgeld und westdeutsche Sozialsysteme in den Osten mussten. Die Westrente (und mehr) für Ostsenioren wurde garantiert, die Westkrankenversicherung übertragen, die Westarbeitslosenversicherung, die Westtariflöhne, die Westverwaltung: Es gab nichts, was der Osten nicht haben sollte – und wollte. Die neuen Länder ließen sich durch Sicherheit korrumpieren – und verkauften dafür die Freiheit, mit westdeutschen Unternehmen, Arbeitnehmern und Standorten in einen ernsthaften Wettbewerb treten zu können.

Wer heute eine gewaltige neue Anstrengung fordert – wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt oder die ehemalige Treuhandpräsidentin Birgit Breuel –, verkennt, dass der Westen schon damals nicht bereit war, sich im eigenen Land Konkurrenz machen zu lassen. Er verkennt auch, dass das Bedürfnis nach einer solchen Anstrengung auch in den neuen Ländern nicht gerade ausgeprägt ist. Hier leben die meisten derer, die die Osterweiterung der Europäischen Union für einen Fehler halten und am liebsten die so genannte Dumping-Konkurrenz aussperren würden.

Freiheit? Freiheit war längst die Beschreibung eines Zustandes geworden: frei von wirtschaftlicher Not. Die Freiheit, die eigenen Chancen zu nutzen, Wohlstand und Wachstum aus eigener Kraft zu erwirtschaften, trat dagegen zurück, bis sie mit den letzten abgewickelten Kombinaten und Staatsunternehmen ganz verschwand. Der Osten hat seine Freiheiten kampflos aufgegeben und sich zum miesepetrigen Transfergeldempfänger degradieren lassen. Und Westdeutschland? Es klingt wie ein schlechter Witz: Westdeutschland hat durch den Sieg der freiheitlichen Gesellschaftsordnung über den Sozialismus an Freiheit verloren. 15 Jahre nach den Montagsdemonstrationen ist der Westen Deutschlands eingeschnürt: Die öffentlichen Etats sind kaum noch handlungsfähig, die privaten Haushalte knausern aus Angst vor sozialem Abstieg. Die Lohnnebenkosten strangulieren Arbeitsplätze bis weit in die Liga der mittleren Verdienste. Wer kann, nimmt sich die Freiheit und wandert aus: mit der Firma, mit der Familie, mit seinen Aufträgen.

Durch den Entschluss, nicht nur die D-Mark eins zu eins zu übertragen, sondern auch Sozial-, Steuer-. Lohn- und Verwaltungssysteme, glaubte der Westen, Zeit gekauft zu haben. Was für ein Irrtum! Weil westdeutsche Unternehmen und Arbeitnehmer eben nicht gezwungen waren, sich frühzeitig mit Lohn- und Investitionskonkurrenz im eigenen Land auseinander zu setzen, ließen sie nahezu 15 Jahre verstreichen. Erst jetzt, wo es ernsthaft und in großem Stil um die Frage von Outsourcing nach Osteuropa geht, erst jetzt bricht das Tarifkartell auf, werden Bürokratiekosten verhandelt. Andere Länder sind ohne Wiedervereinigung in dieser Zeit viel weiter gekommen. Selbst in den skandinavischen Ländern haben sich die Bürger vor Jahren auf die Suche nach der verlorenen Freiheit gemacht. Deutschland tat das Gegenteil.

Heute ist für West- wie Ostdeutsche in allen Lebensbereichen Freiheit „der Spielraum, den der Staat uns zugesteht“. Das haben die Allensbacher Meinungsforscher in diesem Sommer mit einer Befragung im Auftrag der Hayek-, der Leibinger- und der Stiftung für Demoskopie herausgefunden. Die Freiheit wird als Abwesenheit von Zwang, vielleicht noch als individuelle Entscheidungsfreiheit empfunden. Vor allem aber steht Freiheit für Sicherheit. Und die finden die meisten wichtiger als ein diffuses Freiheitsgefühl. Der Grundwert, die Freiheit „zu“ etwas, die der große Freiheitsökonom Friedrich August von Hayek beschrieben hat, wird von nur noch einer Minderheit der Deutschen für tatsächlich wertvoll, für erstrebens- und erkämpfenswert gehalten.

Das habe Auswirkungen auf das allgemeine Glücksempfinden, behaupten die Allensbacher in ihrer Freiheitsstudie. Wer sich frei fühle und die Freiheit schätze, sei im Großen und Ganzen glücklicher als einer, der sich weder frei fühlt noch das Bedürfnis nach mehr Freiheit hat. Die verbreitete Übellaunigkeit und Verbitterung der Montagsdemonstranten scheint das zu bestätigen.

Vom Zauber der Freiheit jedenfalls ist nichts zu spüren bei denen, die heute auf die Straße gehen. Heute schlägt sich die deutsche Zweidrittelgesellschaft im Zweifel auf die Seite von Gleichheit und Sicherheit. Nur ein Drittel würde sich für die Freiheit entscheiden, wenn es darauf ankäme. Der Ruf nach Freiheit ist verstummt. Er hat sich aufgerieben und verbraucht im täglichen Kleinklein, er hat seine Faszination verloren auf dem Supermarkt der Reise-, Konsum-, und Verantwortungsfreiheit. Er wurde verkauft für eine großzügige Versorgung in sozialen Systemen, gedankenlos abgetreten an ein Kartell von Wir-bleiben-was-wir-sind-Lobbyisten.

Faszinierend ist, mit welcher Selbstverständlichkeit in den vergangenen 15 Jahren nicht nur die Freiheit zu arbeiten, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, Karriere zu machen und Wohlstand zu erwirtschaften gegen andere, vermeintlich wichtigere Werte eingetauscht wurde. Genau so selbstverständlich wurden bürgerliche Freiheiten im Kampf gegen den Terror hergegeben, individuelle Freiheit mit Vergnügen gegen das Gefühl, in einem fürsorglichen und fürsorgenden Staat zu leben.

Die Freiheit des Einzelnen litt unmerklich unter den politisch korrekten Vorhaben von Jugend- und Verbraucherschutz, unter Sondersteuern zum Wohle von Umwelt oder Volksgesundheit. Zum Beispiel bei den Alcopops, dem unwichtigsten und lächerlichsten Angriff auf die Freiheit, der aber deshalb auch so symptomatisch ist. Zu Recht hat sich die deutsche Gesellschaft entschieden, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Alkohol zu verwehren. Dieses Verbot konnte der Staat aber nicht durchsetzen. Was tut er? Statt sein Verbot wieder in Kraft zu bringen, verhängt er prohibitive Steuern auf Mischgetränke und beschränkt – unter dem Beifall aller Wohlmeinenden – die Souveränität aller Verbraucher schnurstracks mit. Man könnte sich darüber amüsieren, wenn es nicht um mehr ginge bei der unbedachten Beschränkung des Freiheitsraums für den Einzelnen.

Hayek hat als das Besondere der Freiheit beschrieben, dass niemand weiß, zu welchen Ergebnissen sie führt. Deshalb fällt es kaum auf, wenn sie beschränkt wird: Man kann ja nicht ahnen, wie sich die Welt, die Wirtschaft, das eigene Leben entwickelt hätten, hätte es mehr Freiheit gegeben. Deshalb geht für die Freiheit niemand auf die Straße.

Dabei würde es sich lohnen: Was würde passieren, wenn in diesem Land endlich wieder Experimente gemacht würden? Was, wenn Bildung spannend, wenn Forschung neugierig würde? Was, wenn die Deutschen wieder Spaß am Unbekannten, am Entdecken fänden? Wenn Geldverdienen erlaubt wäre. Was, wenn ein paar unter den Langzeitarbeitslosen entdeckten, dass es mehr Spaß macht, für ein oder zwei Euro zu arbeiten, als zu Hause herumzusitzen? Die Spannungen würden zunehmen, ja. Aber die Spannung auch. Und die gute Laune erst Recht.

Wer aber sieht den Wert der Freiheit tatsächlich in Deutschland? Die Antwort ist verblüffend: die unter 30jährigen in Ostdeutschland. Erst die Nach-Wende-Jugend hat ein positives Verhältnis zu der Freiheit gefunden, die ihre Eltern erkämpft haben. Und während die Eltern und Großeltern montags auf die Straße gehen und sich mehrheitlich ein Stück DDR zurück wünschen, sagt eine Mehrheit der jungen Generation: „Jeder seines Glückes Schmied? Ja und? Ist doch prima.“

Es ist die Generation ohne wirtschafts- und sozialpolitische Traditionsstränge. Sie trägt weder den Wirtschaftswunder-Fresswelle-Apo-Rucksack der westdeutschen Jungerwachsenen, noch ist sie der Ostalgie ihrer Eltern verfallen. Sie ist vergleichsweise unbelastet, frei.

Wenn es aber wirklich so ist, dass diese ordnungspolitische Kaspar-Hauser-Generation – diejenigen, die von keiner der beiden Wirtschaftsordnungen geprägt wurden – für die Freiheit votiert, dann ist das nicht nur irgendeine Wende, irgendein Generationenkonflikt, der sich da anbahnt. Vielleicht ist es die Wende.

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