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Meinung: Der Wille zur Ohnmacht

Wahlkampf in Deutschland: Regieren will keiner Von Helen Fessenden

Bisher hatte ich nie einen Wahlkampf in Deutschland erlebt. Umso neugieriger war ich, als ich vor wenigen Wochen nach Berlin kam. Und mein erster Eindruck ist extrem positiv. Na klar, alles ist relativ. Aber es ehrt die Deutschen, dass es hier keine Komödien und Katastrophen gibt – wie sie es etwa bei uns in Florida nach den Präsidentschaftswahlen 2000 gegeben hatte. Deutsche Politiker, wie alle Politiker in der Welt, erzählen den Wählern nicht gern unangenehme Fakten. Das ist normal. Doch immerhin: In Deutschland drehen sich die meisten Debatten um wichtige Themen – die Mehrwertsteuer, die Zukunft der rotgrünen Koalition, die Wirtschaft, der deutsche Einsatz in Afghanistan. Und wenn Politiker wie Jörg Schönbohm oder Edmund Stoiber versuchen, den Wahlkampf zu amerikanisieren und einen brennenden Streit um die ostdeutschen Moralvorstellungen anzuzetteln, werden sie von ihren eigenen Parteien kritisiert.

Der Nachteil ist, dass Gerhard Schröder gegen Angela Merkel kaum ein Duell der Titanen genannt werden kann. Man könnte sogar sagen, dass es für amerikanische Verhältnisse ein bisschen langweilig geworden ist. Deutschland steckt eben nicht in einem bitteren Kulturkampf, der die Amerikaner in Demokraten und Republikaner gespalten hat. Außerdem ging es in den USA um etwas mehr als eine zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung. Das Land hat innerhalb von drei Jahren zwei Kriege geführt, 150000 Soldaten sind im Einsatz. Und mit John Kerry und George W. Bush waren zwei Kandidaten angetreten, die auf fast alle Probleme vollkommen unterschiedliche Lösungen anzubieten hatten, von der Steuerpolitik bis zum Umweltschutz. Ambivalenzen gab es nicht, es herrschten die Leidenschaften. Beide Lager wollten um jeden Preis gewinnen. Es wurde taktiert, mit Schlamm geworfen, die Integrität des Widersachers bezweifelt.

Im Gegensatz dazu gleicht der deutsche Wahlkampf einem Familienstreit darüber, wer das Geschirr abwäscht und den Müll hinausträgt. Seitdem ich die Dinge verfolge, beschleicht mich ein Verdacht: Vielleicht wollen die beiden großen Parteien, CDU und SPD, gar nicht an die Macht. Wie sonst soll man verstehen, dass der Amtsinhaber absichtlich von der eigenen Partei ein Misstrauensvotum verlangt? Oder die Herausforderin zu ängstlich ist, mehr als ein TV-Duell gegen den Kanzler zu bestreiten (und Stoiber gar vor Oskar Lafontaine kneift)? Oder selbst führende Parteigrößen in der heißesten Phase des Wahlkampfs einfach Urlaub machen?

Hinzu kommt, dass sich CDU und SPD inhaltlich mehr gleichen, als sie zugeben wollen. Hartz IV haben sie gemeinsam beschlossen, in beiden Parteien finden sich Befürworter einer großen Koalition. Wo man auch hinschaut, waltet die Vorsicht. Auch die CDU traut sich eine radikale Reformpolitik nicht zu.

Selbst die ganz Linken wollen nicht an die Macht, sondern nur ihre Basis vergrößern. Ohnehin sind ihre Chancen, auf Bundesebene zu koalieren, gleich null. Es ist grotesk: Solange Deutschlands Wirtschaftskrise unlösbar scheint, ist die Rolle in der Opposition für alle Parteien am verlockendsten.

Doch auch an solche Eigentümlichkeiten werde ich mich gewöhnen. Sie bilden ein Kontrastprogramm zur oft brutalen US-Politik. Vorsichtig, konsensfixiert, detailverliebt: So will der deutsche Politiker sein. Eine Ironie fällt mir besonders auf. Das Wort „Machtpolitik“ gibt es unübersetzt auch im Amerikanischen. Die Sache selbst scheint ein deutsches Exportgut zu sein, das mit den Deutschen rein gar nichts mehr zu tun hat.

Die Autorin ist US-Journalistin und Arthur-F.-Burns-Stipendiatin.

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