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Meinung: Der zweite Akt für die Akten

15 Jahre nach dem Ende der DDR ist die große Stasi-Erkenntniswelle vorbei: Nun geht es ans Historische

Von Matthias Schlegel

Sie riefen „Stasi raus“ und „Stasi in die Produktion“. Das erste haben die Montagsdemonstranten geschafft, als sie an jenem 4. Dezember 1989 in Erfurt, wenige Stunden später in Leipzig und in Dresden die Stasi-Dienststellen stürmten und die Geheimdienstler vertrieben.

Das zweite war eine Illusion, wie sie bald erfahren mussten: Die Produktion hatte nicht Platz für alle. 90 000 hauptamtliche – dazu noch 175 000 inoffizielle – Mitarbeiter standen in Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Die Dimension des Bespitzelungsapparats, die sich der Öffentlichkeit erst nach und nach erschloss, sprengte die Vorstellungskraft der DDR-Bürger. Ja, man hatte gefrotzelt, dass die Aufnahmeprüfung bei der Stasi darin bestand, zwei Meter hoch zu springen und sich dann mit dem Ohr an der Wand festzusaugen. Für Spott eigneten sich auch die auffällig unauffälligen jungen Männer, die, in Anoraks gekleidet und mit Dederon-Beutel in der Hand, bei Besuchen ausländischer Staatsgäste an der Protokollstrecke herumlungerten.

Aber als all das zu Ende war, war es die Erkenntnis über die perfide Systematik der Bespitzelung, die selbst wohlmeinende DDR-Bürger bestürzte. Und es waren die Berichte der Gefolterten in den Gefängnissen, der Entwürdigten in den Verhören, der gebrochenen Seelen und zerstörten Lebensläufe, der Verfolgten, Geschundenen und Erpressten. Und es waren, vor allem, die 180 Kilometer StasiAkten. Sie gaben als Rehabilitierungsbeweise vielen Opfern ihre Würde zurück – den verlorenen Teil ihres Lebens freilich nicht mehr. Anderen erklärten die Akten ein Stück ihrer Biographie. Oder sie zerstörten eine Freundschaft, eine Ehe, eine Kollegialität – weil sie die Botschaft enthielten, dass Vertrauen missbraucht worden war. Gern weist Behördenchefin Marianne Birthler bei Vorträgen und in Interviews aber auch auf einen anderen Aktenbefund hin: Mehr als die Hälfte derjenigen, die von der Stasi angeworben werden sollten, haben sich der Zusammenarbeit verweigert. Die DDR war eben kein Volk von Spitzeln und Denunzianten.

Nach 15 Jahren können wir resümieren: Obwohl die Wahrheiten schlimmer waren als geahnt, blieben die Folgen harmloser als befürchtet. Eine Hexenjagd hat es nicht gegeben. Keine Rache. Nicht Mord und Totschlag. Und wer meint, dass schon der Ausschluss aus einem öffentlichen Amt wegen Stasi-Mitarbeit den Tatbestand der staatlichen Willkür erfülle, dem ist in Sachen politischer Hygiene kaum zu helfen, weil eher der umgekehrte Sachverhalt zu beklagen ist: Zu viele von denen, die unverbesserlich sind, sitzen dort, wo sie nicht sitzen sollten.

Ist der Umgang mit den Stasi-Unterlagen also eine Erfolgsgeschichte? Das, was mit ihnen seit Anfang der 90er Jahre geschah, als das Stasi-Unterlagengesetz in Kraft trat, hat es auf jeden Fall verdient, gegen ideologisch motivierte Vorbehalte, wissenschaftlich begründete Nörgeleien oder parteipolitische Unterstellungen verteidigt zu werden.

Wenn nun ab 1. Januar 2005 die Stasi-Unterlagenbehörde mit ihrem gesamten Archiv- und Personalbestand unter das Dach der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien wechselt, ist damit nicht nur eine organisatorische, sondern vor allem eine inhaltliche Zäsur gesetzt. 15 Jahre nach dem Ende der DDR ist die große Enttarnungs- und Erkenntniswelle durch. Was jetzt kommt, ist vornehmlich Sache tiefer schürfender und weiter greifender Forschung, die die Aktenwirklichkeit stärker in den Zusammenhang der Systemwirklichkeit stellt. Dieser Bestand, zu dem übrigens auch die weltweit größte Sammlung handgeschriebener Lebensläufe gehört, ist eine Fundgrube für Alltagsforscher und Ethnologen und kann im Verbund eines einheitlichen Gedenkstättenkonzeptes seinen Wert noch stärker entfalten.

Das Lob für diesen Zuständigkeitswechsel bleibt einem gleichwohl im Halse stecken, betrachtet man die Umstände, unter denen er zu Stande kam. Innenminister Schily hat sich mit diesem handstreichartigen Akt eine beispiellose personalpolitische Unverfrorenheit gegenüber Marianne Birthler geleistet und das Parlament düpiert. Das ist stillos und ignorant.

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