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Meinung: Der zweite Dreißigjährige Krieg

David Brooks, Kolumnist der New York Times, stellt sich vor, wie ein zukünftiger Historiker einen Abzug der USA aus dem Irak sieht: Im Herbst 2007 begannen die USA damit, ihre Truppen aus dem Irak abzuziehen. Damit begann der zweite Dreißigjährige Krieg.

David Brooks, Kolumnist der New York Times, stellt sich vor, wie ein zukünftiger Historiker einen Abzug der USA aus dem Irak sieht:

Im Herbst 2007 begannen die USA damit, ihre Truppen aus dem Irak abzuziehen. Damit begann der zweite Dreißigjährige Krieg. Dieser Krieg bestand aus einem verwirrenden Durcheinander von kleinen und großen Konflikten, die ausbrachen und wieder zurückgingen und dann wieder ausbrachen, über den ganzen Mittleren Osten hinweg, die aber ein gemeinsames Thema verband.

Der Kern all dieser Unordnung war, dass der arabische Nationalstaat die Kontrolle verlor. Substaatliche Gruppen – wie Hisbollah und die Mahdi-Armee – und supranationale Gruppen – wie lose verbundene Terrornetzwerke, die sunnitische und die schiitische Liga und Verbünde von Satellitenfernsehen – wurden stärker und stärker, während nationale zentrale Regierungen wankten und stürzten. Ihr Zusammenbruch führte zu einem Machtvakuum, das authentischere und tief verwurzelte soziale Gruppen versuchten zu füllen.

Der Krieg bestand aus mehreren Phasen. Die erste war die Auflösung des Irak. Keine nationale Institution überlebte den Aufstand: Es gab keine unabhängige Justiz, keine effektive Polizei, keine politische Organisation, die Loyalität zur Nation über die Loyalität zu einer Konfession oder einem Stamm stellte. In Abwesenheit einer Regierung mit Gesetzen entwickelte sich eine Regierung der Todesschwadronen. Milizen – mit ihren eigenen Krankenhäusern, Schulen und Indoktrinationssystemen – versuchten, Ordnung mithilfe von Ermordungen und Rache durchzusetzen.

Die muslimische Welt sah das sunnitische-schiitische Blutbad im Satellitenfernsehen und wurde wütend. Milizen, religiöse Institutionen und Terrororganisationen entwickelten transnationale Allianzen. Es gab schiitische Aufstände in Saudi-Arabien, Bahrain und Pakistan. Wütende Sunniten protestierten etwa in Ägypten und verlangten, dass ihre Führer die sunnitische Vormacht erhalten müssten. Die Atmosphäre war reif für neue radikale Führer, die beeinflusst waren von Moqtada al Sadr und Hassan Nasrallah. (…)

Chaos verbreitete sich, als Regierungen in Libanon und Jordanien zusammenbrachen. Die palästinensische Autonomiebehörde wurde komplett dysfunktional, als Hamas und Fatah einen Bürgerkrieg auf niedriger Flamme ausfochten. Al Qaida feierte das Blutvergießen und verbreitete es mit verzücktem Eifer. Die um sich greifende Unordnung gab einer Beobachtung recht, die der Historiker Michael Oren einst gemacht hatte: dass es im muslimischen Mittleren Osten eigentlich nur drei Nationen gäbe: Iran, Türkei und Ägypten. Die anderen Nationen sind Wunschgebilde. Die Grenzen sind willkürlich und die Regierungen künstlich. (…)

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