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Meinung: Der zweite Papst der Juden

Wie sein Vorgänger wendet sich Benedikt XVI. ans Judentum: Dabei muss es um mehr gehen als symbolische Gesten

Wegen seiner symbolischen Gesten wurde Johannes Paul II. als „Papst der Juden“ bezeichnet. Und auch die Wahl von Benedikt XVI. wurde von vielen maßgeblichen jüdischen Stimmen begrüßt. In einem Kommentar zur Herkunft des Papstes bemerkte etwa David Rosen, der internationale Leiter der interreligiösen Beziehungen beim jüdisch-amerikanischen Komitee, dass „seine nationale Herkunft ihn sensibel macht für die Gefahren des Antisemitismus und für die Wichtigkeit der Versöhnung zwischen Juden und Katholiken“.

Im Allgemeinen ist die Meinung weit verbreitet, dass die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum gegenwärtig so gut sind wie noch nie in der Vergangenheit. Und tatsächlich hatte Paul VI. nach Jahrhunderten des Antijudaismus und nach den Verbrechen der Schoah mit der „Nostra Aetate“ vom 28. Oktober 1965 den Weg der Wiederannäherung entschlossen eingeschlagen. Mit dieser bahnbrechenden Deklaration fiel die Anklage des Gottesmordes, die traditionell gegen die Juden vorgebracht wurde, und die Kirche verdammte mit Nachdruck den Antisemitismus. Es ist also kein Zufall, wenn Benedikt XVI. die Tradition beispielhafter Gesten seines Vorgängers fortsetzt und beschlossen hat, seine Reise nach Deutschland mit einem historischen Besuch in der Kölner Synagoge zu verbinden.

Angesichts dieses positiven Klimas war der größte Teil der internationalen Medien überrascht und in vielen Fällen bestürzt, als am 25. Juli die Meldung verbreitet wurde vom Protest des israelischen Außenministeriums beim Heiligen Stuhl. In seiner Rede am 24. Juli hatte der Papst an jüngste Terroranschläge erinnert, ohne jedoch auf das Attentat im israelischen Netanja einzugehen, das einige Tage zuvor fünf Todesopfer und 90 Verletzte gefordert hatte. Die harte Stellungnahme des jüdischen Staates, die Verurteilung dieser Auslassung, kam vielen überproportional vor.

Der Vatikan verteidigte sich damit, „dass es nicht immer möglich war, auf einen Anschlag gegen Israel eine sofortige öffentliche Verurteilung folgen zu lassen“. Dies wegen unterschiedlicher Gründe, darunter der, „dass die Attacken gegen Israel manchmal gefolgt waren von sofortigen israelischen Reaktionen, die nicht immer im Einklang mit den Normen des internationalen Rechts standen“. Nach diesem harten Wortwechsel haben jedoch sowohl der Vatikan als auch Israel weitere Polemiken vermieden. Wahrscheinlich aus dem beiderseitigen Gefühl heraus, welches der Oberrabbiner von Rom auf den Punkt brachte, dass der Disput „nur beiden Seiten Schaden zufügen würde“.

Die schwerste diplomatische Krise in den ersten hundert Tagen des Pontifikats von Benedikt XVI. scheint also beigelegt. Aber steht auch wirklich alles zum Besten? Können wir wirklich annehmen, dass die Meinungsverschiedenheit über die unterbliebene Erwähnung der Attentate in Israel nur ein Sommergewitter war, das plötzlich ausbrach und dann weiterzog, ohne Konsequenzen zu haben? Oder zeigt der Vorfall nicht vielleicht eine latente Spannung, deren Ursachen schwierig auszumachen ist, die aber erneut ausbrechen kann?

Der kurze diplomatische Disput mit seinem Austausch von Pressemitteilungen zwingt zur Reflexion. Er erinnert uns vor allem daran, dass die Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Judentum nicht nur theologischer, sondern auch politischer Natur sind. Und dass der Blick auf den interreligiösen Dialog, so fundamental dieser auch sein mag, nicht ausreicht, um ein historisches Problem zu verstehen, das entscheidend ist für unsere Gesellschaft.

Die Frage der Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel zog sich nach 1948 für Jahrzehnte hin, und sie wurde 1994 teilweise gelöst mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Unter den noch zu lösenden Knoten verbleibt vor allem der des Status von Jerusalem, von Israel als eigenes Erbe angesehen, das nicht aufgegeben werden kann, während der Vatikan darauf besteht, dass die Heilige Stadt einen Sonderstatus erhalten soll und dass der jüdische Wunsch, Jerusalems Schicksal zu kontrollieren, „moralisch und juristisch inakzeptabel ist“. Die Notwendigkeit, auch die arabischen Christen zu vertreten, die in Israel wie in den palästinensischen Autonomiegebieten leben, wirkt sich auch auf die Ansichten des Vatikans über die Zukunft der Region aus. Die wiederum unterscheiden sich oft von denen des jüdischen Staates. In diesem besonderen Fall der Papstrede vom 24. Juli sollte der Protest des Außenministeriums wohl den Vatikan daran erinnern, dass jede Form von Zurückhaltung bei der Verurteilung des palästinensischen Terrors nicht akzeptabel ist und auch einem möglichen Gleichgewicht des Friedens entgegenwirkt, das sich nach dem Rückzug der Siedler aus dem Gazastreifen ergeben könnte.

Man muss sich allerdings auch fragen, ob diese Schwierigkeiten in den politischen Beziehungen nicht auch aus der Geschichte der römischen Kirche erwachsen und der unleugbaren antijüdischen Kultur entspringen, die sich speziell im Zeitalter der Gegenreform entwickelt hat. Dieses Problem hat nicht nur mit der Verantwortung einzelner Katholiken zu tun, sondern mit dem Papsttum als weltlicher Herrschaft und der Politik, die der Heilige Stuhl gegenüber den Juden verfolgt hat, die seiner Kontrolle direkt unterstellt waren. Man sollte nicht vergessen, dass die Praxis, Juden in Ghettos einzuschließen, erst im Jahr 1870 ein Ende fand. Und die Juden von Rom wurden nicht etwa von einer spontanen Entscheidung Pius IX. befreit, dem damaligen Papst, sondern von der italienischen Armee. Auch aus diesem Grund hat die Heiligsprechung Pius IX. durch Johannes Paul II. im Jahr 2000 nicht wenige Irritationen auf jüdischer Seite ausgelöst. Natürlich steht die Freiheit der Kirche nicht in Frage, ihre eigenen Modelle von Heiligkeit zu verfolgen, aber das Erbe der Vergangenheit wiegt eben doch schwer.

Das Pontifikat von Pius IX. wurde unter anderem vom Fall Edgardo Mortara bestimmt, einem jüdischen Kind, das ohne Wissen der Eltern von einer christlichen Hausangestellten getauft wurde und deshalb der Familie für immer von der päpstlichen Polizei entzogen wurde. Ähnliche Episoden scheinen einer weit zurückliegenden Epoche anzugehören, aber ein Schatten dieser Einstellung gegenüber der Konversion durchweht noch immer die Doktrin der katholischen Kirche. Die theoretische Möglichkeit einer Taufe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten ist gemäß dem Codex des kanonischen Rechts, der von Johannes Paul II. am 25. Januar 1983 erlassen wurde, immer noch zulässig. Dort heißt es (Can. 868, § 2): „In Todesgefahr wird ein Kind katholischer, ja sogar auch nichtkatholischer Eltern auch gegen den Willen der Eltern erlaubt getauft.“

Der Wunsch, die Juden zum christlichen Glauben zu bekehren, hat im Übrigen eine lange Reihe von Unstimmigkeiten hervorgerufen. So etwa vor einigen Monaten, als eine Entscheidung der Glaubenskongregation über jüdische Kinder veröffentlicht wurde, die während der deutschen Besatzung in Frankreich „Konventen und katholischen Familien“ anvertraut wurden. Im Text wird unter anderem bekräftigt, dass „die Kinder, die getauft wurden, nicht Institutionen anvertraut werden dürfen, die keine christliche Erziehung garantieren können“ – was bedeutet, dass sie der jüdischen Gemeinde nicht zurückgegeben werden dürfen. Außerdem wurde hinzugefügt, dass die Kinder ihren jüdischen Eltern nur dann zurückgegeben werden können, „wenn sie keine Taufe erhalten haben“. Einige haben die Echtheit dieser Dokumente aus der unmittelbaren Nachkriegszeit angezweifelt, andere hingegen halten sie für in der tausendjährigen Geschichte der Kirche stehend. Von jüdischer Seite wurde teils heftige Kritik geübt, besonders an Pius XII., dessen besondere Zustimmung in den Schriften aus dem Archiv der Glaubenskongregation angeführt wird. Ein weiteres Element im Streit um die Seligsprechung von Pius XII.

Die Diskussion über die Handlungen „Papa Pacellis“ und das ihm vorgeworfene Schweigen führt zum schmerzhaften Thema der Schoah und dem Verhalten der katholischen Kirche angesichts der physischen Ausrottung der Juden Europas. Zweifellos hat es in den letzten Jahrzehnten, und besonders im Pontifikat Wojtylas, einen wachsenden Willen auf katholischer Seite gegeben, religiösen Anteil an dem Leiden im Holocaust zu nehmen. In Dutzenden von Botschaften und schriftlichen Reflexionen hat Johannes Paul II. das fundamentale Konzept wiederholt, dass das Massaker an den Juden auch alle Christen betrifft und dass sich gar das Leiden des jüdischen Volkes erhebt „wie ein Mahnruf für die ganze Menschheit, für alle Völker, alle Regierungen und jeden Einzelnen“. Das ist eine Haltung, die ohne Zweifel wie ein Gegengift wirken kann gegen die Leugnung und die Tendenz zum Schweigen über die Ermordung der Juden, die viel zu lange in ganz Europa geherrscht haben.

Genauso gibt es aber Aspekte dieser Annäherung der Kirche an den Holocaust, die Verwunderung hervorrufen. Einige haben so etwas wie eine „Christianisierung“ der Schoah festgestellt, eine Art Enteignung des jüdischen Martyriums. Das begann mit der Seligsprechung von Pater Maximilian Kolbe, einem Franziskaner, der in Auschwitz ermordet wurde, und dann der von Edith Stein, einer zum Katholizismus übergetretenen Jüdin, die Nonne wurde und ebenfalls in Auschwitz starb. Mit beider Seligsprechung legte der Vatikan die Fundamente für ein christliches Martyrologium der Schoah. Ein Prozess, der noch deutlicher sichtbar wurde im Jahr 1984, als ein Karmeliterkloster im KZ von Auschwitz erbaut wurde, an dem Ort, wo das Zyklon B gelagert wurde. Nur nach Jahren der Diskussion mit jüdischen Organisationen wurde das Kloster um etwa hundert Meter verlegt, aber an seiner Stelle steht bis heute ein enormes Kreuz von siebeneinhalb Meter Höhe.

Gleichzeitig stellte die katholische Kirche mehrfach die nazistische Verfolgung als im Grunde eine Revolte gegen das Christentum dar. In diesem Sinne hat sich auch Josef Ratzinger mit all seiner Autorität zu Wort gemeldet, als er im Jahr 2000 in einem Artikel im „Osservatore Romano“ schrieb, dass „die verabscheuungswürdige Erfahrung der Schoah im Namen einer antichristlichen Ideologie verübt wurde, die den christlichen Glauben in seinen abrahamitischen Wurzeln treffen wollte, im Volke Israel“.

Damals wurde angemerkt, dass es zwar richtig sei, dass der Nazismus sich teilweise an neuheidnische Ideen anlehnte, dass aber genauso wahr sei, dass die Ausrottung der Juden von Menschen begangen wurde, die in einem christlichen Milieu aufgewachsen waren, und dass sie auf dem Gebiet des christlichen Europa stattfand, das fast immer dazu schwieg oder gar kollaborierte. Die vom kirchlichen Apparat seit Jahrhunderten gelehrten und in die Praxis umgesetzten Vorurteile trugen jedenfalls auf erhebliche Weise zum antijüdischen Hass bei. Wenn man die Idee akzeptieren würde, dass der Nazismus, indem er die Juden verfolgte, eigentlich vor allem die Kirche treffen wollte, so gelangte man zu dem paradoxen Schluss, dass die Juden für einen Hass bezahlten, der sie nicht einmal in erster Linie zum Ziel hatte.

Alles gut, also? Sagen wir, dass viele Dinge sich verbessert haben auch über das hinaus, was man sich noch vor 30 Jahren erhoffen durfte. Dennoch bleibt noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis wir in den Tiefenschichten des europäischen Bewusstseins angelangt sind.

Aus dem Italienischen von Clemens Wergin.

Giulio Busi

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