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Ein Besucher in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem. Christian Wulff wird dort bei seinem ersten Israel-Besuch als Bundespräsident erwartet.

© Reuters

Deutsche Geschichte: Zeit ohne Zeugen

Der politische Diskurs in Deutschland hat sich enthistorisiert, die Lehren aus der Nazi-Zeit werden nicht mehr pädagogisch überhöht. Erst geschichtsbesessen, jetzt geschichtsvergessen? Ein Kommentar.

Deutschland, Ende November 2010. Der Zentralrat der Juden wählt einen neuen Präsidenten, Bundespräsident Christian Wulff reist nach Israel, Bundeskanzlerin Angela Merkel wird in einigen EU-Staaten des Neokolonialismus geziehen, die Wehrpflicht wird abgeschafft, Martin Schulz, Chef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, wird im höchsten europäischen Gremium vorgeworfen, ein „undemokratischer Faschist“ zu sein

Vor wenigen Jahren wäre jede dieser Meldungen mit angespannter Nervosität, wenn nicht gar nationaler Zerknirschung begleitet worden. Die Deutschen und ihre Vergangenheit, das Verhältnis zu den Juden, die Relevanz guter nachbarschaftlicher Beziehungen in Europa, die zivilgesellschaftliche Funktion des Bürgers in Uniform: Über all das wäre intensiv gegrübelt worden.

Diesmal ist die Aufmerksamkeit routiniert, ja gedämpft. Keine Erregung, uns plagen andere Sorgen. Offenbar hat sich der politische Diskurs in Deutschland enthistorisiert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Vielleicht wurde aus dem, wofür der Begriff „Auschwitz“ steht, schon zu viel abgeleitet – der Pazifismus, das Europabekenntnis, ein großzügiges Asylrecht, die Ablehnung der Wiedervereinigung, der Kosovokrieg, der Datenschutz, die Iranpolitik. Solche Instrumentalisierungen verfangen kaum noch. Das Fell der Deutschen ist dicker geworden.

Erst geschichtsbesessen, jetzt geschichtsvergessen? Nein. Geleugnet wird nichts, bloß wird öfter als früher der Neigung widerstanden, die Lehren aus der Geschichte pädagogisch zu überhöhen. Ein Ignatz Bubis galt noch als Seismograf der gesellschaftlichen Atmosphäre. Weder Paul Spiegel noch Charlotte Knobloch oder Dieter Graumann konnten oder können in diese Rolle hineinwachsen. Das liegt nicht an ihnen. Die Juden in Deutschland haben sich weniger verändert als Deutschland selbst.

Die Generation der Überlebenden stirbt ebenso wie die der Verbrecher. Nun wird Erinnerung weitergegeben, nicht vererbt. Vermittelte Erinnerung aber ist etwas anderes als gefühlte Erinnerung. So verwandelt das nahe Ende der Zeitzeugenschaft die Gedenkrituale. Die Angst vor falschem Pathos wird bald größer sein als die vor Beschönigung.

Zudem begegnen uns seit dem Fall der Mauer auch mehr und mehr Opfer einer anderen Diktatur. Holocaust-Gedächtnis trifft auf Gulag-Gedächtnis. Daraus folgt keine Parallelisierung. Allerdings beklagen viele Opfer kommunistischer Regime eine Asymmetrie im Gedenken. In ihrer Perspektive fügt sich die Singularitätsthese von Auschwitz auch ein in die Verdrängungsgeschichte kommunistischer Verbrechen. Das kalte Wort von der „Opferkonkurrenz“ geht um.

Bleibt Europa. Eine gemeinsame Lektion aus ihrer Geschichte schien für die Deutschen gewesen zu sein, nie mehr gehasst, sondern möglichst oft geliebt werden zu wollen. Frankreich und Polen als wichtigste Nachbarn, verankert in EU, Nato und transatlantisch. Die transatlantischen Bande wurden bereits von Gerhard Schröder gelockert. Auf europäischer Bühne muss sich nun Merkel für ihren Euro-Rettungskurs beschimpfen lassen. Soll sie ihn deshalb ändern? Wohl kaum. Die Deutschen lernen gerade, dass sie manchmal das Leiden anderer Nationen an ihrer Politik aushalten müssen. Wer das beklagt, vergisst: Dadurch entwachsen sie nicht ihrer Vergangenheit, sondern werden mit ihr erwachsen.

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