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Ein von Demonstranten aufgestellter Grabstein für das Grundgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

© dapd

Deutschland und Europa: Wir brauchen eine neue Verfassung

Die Deutschen wurden nie gefragt, ob sie das Grundgesetz wollen. Deshalb wäre es jetzt an der Zeit, darüber abstimmen zu lassen.

Die vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes waren kluge Köpfe. Nicht nur weil sie eine robuste Verfassung entworfen haben, sondern auch, weil sie an deren Abschaffung dachten. In Artikel 146 ist klar geregelt, was zu tun ist: Demnach verliert das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit, an dem „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Dass sich Deutschland eines Tages eine neue Verfassung gibt, widerspricht also nicht dem Geist des Grundgesetzes. Es wäre keine Verfassungsschändung.

Nun sind die Deutschen mit ihrem Grundgesetz extrem gut gefahren. Es war ein Glücksfall. Nie gab es eine Verfassung auf deutschem Boden, die so viel Freiheit garantiert hat und den Staat gleichzeitig so gut funktionieren ließ. Allerdings hat die ungeklärte Frage des deutschen Nationalbewusstseins auch dazu geführt, dass unsere Verfassung überdehnt wurde. Sie wurde zum Allerheiligsten nicht nur des Staates, sondern auch der Gesellschaft verklärt – wahrscheinlich gerade weil sie nicht direkt durch das Volk legitimiert ist. Anders als die Verfassungen von Staaten wie Russland oder Ägypten zum Beispiel.

Es wäre an der Zeit, das Grundgesetz aus dieser pädagogischen Umklammerung zu befreien. Deutschland muss keine Angst haben vor einer neuen Verfassung. Wer vom Grundgesetz spricht, meint ohnehin meist die Grundrechte. Der epochale Fortschritt des Grundgesetzes lag darin, staatliche Autorität unmittelbar an die Verwirklichung der Grundrechte zu binden. Der Stellenwert der Grundrechte aber steht nach einer jahrzehntelangen, stilprägenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts längst nicht mehr zur Disposition. Dagegen wird der Ruf nach den Grundrechten zunehmend dafür missbraucht, Fragen unserer Identität und unseres Zusammenlebens zu beantworten. Diese Fragen sollten wir uns lieber selbst stellen.

Emanzipation gegenüber den Ängsten der Nachkriegszeit

Jüngstes Beispiel ist das Kölner Urteil zur religiösen Beschneidung. Es wird spannend sein zu sehen, wie das Bundesverfassungsgericht am Ende entscheiden wird: Was wiegt schwerer, das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung oder das der Religionsausübung? Die Frage ist auch von Juristen kaum schlüssig zu beantworten. Am Ende wird doch die Gesellschaft entscheiden müssen – auf den Grundlagen einer von ihr legitimierten Verfassung und gegebenenfalls mit Hilfe entsprechender Gesetze. Der starre Blick auf die Verfassungsinterpreten hilft bei der Lösung von Konflikten meist nicht weiter.

Das Grundgesetz aus seiner Unantastbarkeit heraus und auf den Boden der Bundesrepublik zurückzuholen, wäre deshalb ein Akt der Emanzipation gegenüber den Ängsten der Nachkriegszeit. Gerade in seinem staatsrechtlichen Teil ist das Grundgesetz geprägt von dem Willen, so etwas nie wieder passieren zu lassen. Ob aber der Ausschluss von Volksabstimmungen, die potenziell bremsende Rolle des Bundesrates oder die verschämte Aufgabenbeschreibung des Bundespräsidentenamtes aus Angst vor einem Rückfall in die Barbarei noch zeitgemäß sind, sollte zumindest diskutiert werden. Die These, wir hätten vielleicht die beste Verfassung der Welt, ist kein hinreichendes Argument, um den Bürgern eine Entscheidung vorzuenthalten.

Eines würde sich mit Sicherheit ändern: Lässt man die Deutschen erst einmal über ihre Verfassung abstimmen, dann ließen sich die Vorbehalte der politischen Klasse gegen mehr direkte Demokratie nicht mehr aufrechterhalten. Vielleicht würde eine Volksabstimmung zu einem entspannteren Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten führen. Denn die Deutschen, das zeigen Umfragen, sind auf kaum etwas so stolz wie auf ihre Verfassung. Ein neues Grundgesetz wäre deshalb wohl dem alten Grundgesetz sehr ähnlich. Es hätte aber einen besseren Platz gefunden.

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