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Bei Pippi Langstrumpf war früher vom "Negerkönig" die Rede. Der Verlag änderte das nachträglich in "Südseekönig".

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Deutschland und sein koloniales Erbe: Ausfahrt aus der Mohrenstraße

Von der Kinderbuchdebatte um Astrid Lindgrens "Negerkönig" bis zu den außereuropäischen Sammlungen im Humboldtforum: Die Betroffenen machen endlich den deutschen Umgang mit seinem kolonialen Erbe zum Thema. Und das kann die bunte Republik Deutschland sehr gut brauchen.

In wenigen Tagen jährt sich eine kurze, aber heftige Debatte, die einen kleinen Rückblick lohnt. Anfang Januar wurde bekannt, dass einige renommierte Verlage sich entschlossen hatten, in den Neuauflagen von Kinderbuchklassikern den „Neger“ zu streichen. Im Grunde keine große Sache, auch früher hatte es Änderungen gegeben, Anpassung alten Sprachbestands an heutigen zum Beispiel. Dennoch wurde die Nachricht um das Ende des N-Worts Anfang Januar mit ungewöhnlichem Furor aufgenommen:

„Wer aber einen Text umschreibt“, schrieb Tilman Spreckelsen in der „Frankfurter Allgemeinen“, „um ihm das Anstößige zu nehmen, erreicht damit nur eins: dass über dieses Moment der Irritation nicht mehr gesprochen wird. Und damit über das, was ernsthafte Literatur ausmacht.“ „Der deutsche Betroffenheitsschlumpf ist nicht zu bändigen“, schimpfte Jacques Schuster in der „Welt“ zwei Tage später. Die „Zeit“ leistete sich zu dem Thema eine Titelseite mit dem Schlachtruf: „Kinder, das sind keine Neger“. Und im Dossier unter dem Titel „Die kleine Hexenjagd“ klagte Ulrich Greiner, die Eingriffe des Verlags in die Texte von Otfried Preußler oder Michael Ende seien „ein Vergehen an der Literatur“: „Wie anders als Zensur oder Fälschung soll man das nennen?“

Grotesker Auftritt mit schwarz geschminktem Gesicht

Der renommierte Literaturkritiker Denis Scheck hatte in der ARD-Sendung „Druckfrisch“ einen grotesken Auftritt, der einen gewissen Höhepunkt der Feuilletonempörung markierte: Mit schwarz geschminktem Gesicht verkündete Scheck, er fühle sich an Orwells Wahrheitsministerium erinnert, dessen Angestellte permanent die Wahrheit umschreiben (ein erklärungsbedürftiges Wort übrigens, Wahrheit, wenn man es auf die Streichung des Worts „Neger“ münzt). Scheck erregte sich über „Tugendbolde“ und geißelte den „feigen vorauseilenden Gehorsam vor den Tollheiten einer auf die Kunst übergriffigen politischen Korrektheit“. Auch er dekretierte: „Sprache ist etwas Lebendiges“, und Kinder sollten lernen, damit umzugehen. Anderswo wurden Preußler und Lindgren als „über jeden Zweifel erhaben“ erklärt, ihre Bücher seien, „wenn man sie als Ganzes betrachtet, kein bisschen rassistisch. Damals redete man halt so“.

Der Zensurvorwurf scheint wenig stichhaltig

Das Ende der Literatur also. Es lohnt, sich die Argumente dafür vorzunehmen. Sie scheinen wenig stichhaltig. Zum Zensurvorwurf: Jeder gebrauchte Text unterliegt auch Änderungen, die Bibel wird heute nicht mehr in der Luther’schen Orthografie und auch nicht mehr ganz und gar in Luthers Diktion benutzt. Interessant, dass die Streiter für die Literatur und gegen die Zensur etwa den früheren Text der „Kleinen Hexe“ gegen ihren eigenen Verfasser verteidigten. Otfried Preußler hatte den Änderungen zugestimmt: Zensur? Die Theaterregisseurin Simone Dede Ayivi zerpflückte im „Tagesspiegel“ das Argument, Kinder müssten lernen, mit der Irritation durch alte Sprache umzugehen, als äußerst angreifbar. „Neger“ sei eben nicht irritierend, sondern nur allzu verständlich, schrieb Ayivi über ihre Kindheitslektüre von Pippi Langstrumpf und Pippis Vater, den „Negerkönig“: „Auch ich als schwarzes Kind wusste, was das bedeutet. Diese Textstelle bedeutet: Weiße herrschen über Schwarze. Schwarze Menschen sind weniger wert.“

"Deutsche Leitkultur" wurde schlagzeilenfähig

Die Intervention einer schwarzen deutschen Kulturschaffenden macht deutlich, dass die sogenannte „Kinderbuchdebatte“ keine über Kinderliteratur war. Es ging darin um Hierarchie, darum, wer der Ober und wer der Unter ist. Sie war insofern, ohne dass das Wort jemals fiel, eine Neuauflage jener Leitkulturdebatte, die im Jahr 2000 die Republik kurz, aber heftig erschütterte. Zur Erinnerung: Die erste hatte Friedrich Merz losgetreten, seinerzeit Chef der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Er war zwar nicht Vater des Begriffs, ältere Versuche auf diesem Feld machte der frühere CDU-Chef in Brandenburg, Jörg Schönbohm, 1997 und 1998. Aber Merz kann, um im Bild zu bleiben, als Hebamme des Schlagworts gelten. Durch ihn wurde „deutsche Leitkultur“ schlagzeilenfähig. Mitte Oktober in einer Bundestagsdebatte gebraucht, in einem Beitrag für die „Welt“ Ende Oktober 2000 wiederholt und ausgeführt.

Defensive Erkenntnisverweigerung

Der Begriff schien damals perfekt, um die geschlagenen konservativen Truppen – und vielleicht andere übers konservative Lager hinaus – wieder zu sammeln. Die noch junge rot-grüne Regierung Schröder hatte damals ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, die Reform des alten Ausländerrechts ganz oben auf ihr Programm gesetzt. Dazu nun musste sich die aktuelle Opposition verhalten, in deren lange Regierungszeit jene – freilich über die Kohl-Jahre hinaus weit in die 70er Jahre reichende – „defensive Erkenntnisverweigerung“ fiel, wie der Migrationshistoriker Klaus J. Bade es nannte, den tiefen Unwillen Deutschlands, Einwanderungsland nicht nur faktisch zu sein, sondern sich auch so zu begreifen und zu nennen. Und man hatte außerdem den hessischen Wahlkampf 1998/99 hinter sich, in dem die dortigen Christdemokraten vorgaben, dem Volkszorn gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ein Ventil zu bieten, tatsächlich aber das Unbehagen und den Hass gegen ein vielfältiger werdendes Deutschland, „gegen die Ausländer“ tout court politisch ausbeuteten. Jetzt, Ende 2013, mit einer ersten schwarz-grünen Landesregierung ausgerechnet in Hessen, scheint all dies nicht 15 Jahre, sondern ein Zeitalter zurückzuliegen. Damals aber hatte die CDU mit dieser Kampagne den Sozialdemokraten ihr bisheriges Stammland entwunden.

Die Leitkulturdebatte war peinlich

Und dennoch hatte das Wort von der Leitkultur vor 13 Jahren kurioserweise nach wenigen Wochen ausgedient. Es schaffte es zwar 2007 noch ins christdemokratische und kurz zuvor christsoziale Grundsatzprogramm, einmal abgewandelt zu „Leitkultur in Deutschland“, ist aber seitdem nur noch für ironische Zwecke Teil des deutschen Wortschatzes. Die Debatte selbst in konservativen Medien hatte recht bald zutage gefördert, wie wenig handhabbar der Begriff war. Er handelte entweder von Selbstverständlichem, von Verfassungspatriotismus, Beachtung von Grund- und einfachen Gesetzen – was Friedrich Merz’ Selbsterklärungsversuchen sehr bald auch von konservativer Seite vorgeworfen wurde. Oder der Begriff blamierte sich als unbenutzbar, weil er so deutlich vom säkularen Alltag entfernt war. Dies galt etwa für die Definition des damaligen CSU-Generals Alexander Dobrindt, wonach Leitkultur „das Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln“ sei, „geprägt von Antike, Humanismus und Aufklärung“ – eine Definition, die gerade von jüdischer Seite mehrfach vehement zurückgewiesen wurde.

Für die Migranten ist "Leitkultur" alles andere als eine Floskel

Vielleicht aber erstickte diese frühere Leitkulturdebatte auch an anderem. Das Ganze war peinlich. Die Liga für Leitkultur, die da Hoheit beanspruchte, bestand aus altmodischen Nationalkonservativen, die zudem inhaltlich wenig satisfaktionsfähig, weil ihrerseits ihrer Sache selbst nicht recht sicher waren. Und vielleicht gab es auch das implizite Wissen, dass es längst eine Leitkultur gab, über die nur nicht gesprochen wurde? Der Pädagoge und Rassismusexperte Mark Terkessidis hatte schon im November 2000, also sozusagen in den letzten Tagen der Aufregung, einen Hinweis darauf gegeben: „Hülya B. weiß ziemlich genau, was ,deutsche Leitkultur’ bedeutet“, schrieb er. Sie sei Muslima, ausgebildete Erzieherin und arbeitslos. Kindergärten nämlich würden zu zwei Dritteln von kirchlichen Trägern geführt: „Während Kommentatoren der ,FAZ’ den Begriff als ,Gefasel’ abtun und mittlerweile selbst auf den Meinungsspalten der ,Bild’-Zeitung von einer ,unwürdigen Diskussion’ gesprochen wird, ist ,Leitkultur’ für die meisten Migranten alles andere als eine Floskel. Tatsächlich existiert in Deutschland noch weit mehr als in vergleichbaren europäischen Einwanderungsgesellschaften so etwas wie eine dominante Kultur.“

"Es ist, als würden wir nicht existieren"

Die Kinderbuchdebatte war aber ein Aufstand gegen diese bereits etablierte Leitkultur, die keineswegs nur von christlichen Traditionen und Vorrechten geprägt ist. Und sie kam von deren Opfern. Sie nahm den Türhütern der deutschen, der westlichen Kultur die Klinke aus der Hand. Entsprechend stark war der Widerstand. Und die Interventionen kamen von Menschen, die Teil ebenso wie Außenstehende dieser Kultur waren, vor allem aber Betroffene: vom Abteilungsleiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Mekonnen Mesghena, von der schwarzen britischen Germanistin Sharon Otoo, der afrodeutschen Journalistin Hadija Haruna und der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“. Zum vermutlich ersten Mal stießen sie eine Kulturdebatte an. Und zwar, in dem sie scharfe Fragen stellten: Etwa danach, was da eigentlich verteidigt werde und wer jene „Wir“ seien, die sich da äußerten. Ob in der Diskussion über Blackfacing, das Schwarzeinfärben weißer Schauspieler an deutschen Bühnen, oder wenn es darum gehe, rassistische Begriffe in deutschen Kinderbüchern durch neutralere auszutauschen, schrieb Simone Dede Ayivi: „Schwarze Menschen werden nicht mitgedacht. Es ist, als würden wir nicht existieren, Gedanken macht man sich lediglich um die Rechte des weißen Urhebers und das ungetrübte Vergnügen des weißen Rezipienten, der am liebsten alles so haben will, wie es schon immer war.“ Und weiter: „Vielleicht ist das die Gruppe, die mit ,wir’ gemeint ist. Dem ,Wir’ aus der wohl eher rhetorischen Frage auf dem aktuellen Titelblatt der ,Zeit’: ,Unsere liebsten Kinderbücher werden politisch korrekt umgeschrieben – ist das ein Fortschritt?’, heißt es da. Unbeeindruckt vom Kampfbegriff der politischen Korrektheit lautet meine Antwort darauf: ja.“

Andrea Dernbach, die Autorin dieses Textes.
Andrea Dernbach, die Autorin dieses Textes.

© Kitty Kleist-Heinrich

Eine Titelseite zur Verteidigung des Literaturkanons

Wobei das „Wir“ nicht einmal alle, womöglich nicht einmal die meisten weißen Leserinnen und Leser einschließt: Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid zufolge war der Anteil derer, die gegen eine Reform der Kinderbücher sind, desto größer, je höher der Bildungsabschluss der Interviewten war. So plädierten 85 Prozent der befragten Volksschüler ohne Lehre für eine Anpassung der Texte, doch nur 37 Prozent der Deutschen mit Hochschulreife. Vermutlich der Grund, warum die „Zeit“, Zentralorgan der Bildungsgeneigten, sich eine ganze Titelseite zur Verteidigung des Literaturkanons leistete, eine Art Hilferuf. Ganz offensichtlich stand das Abendland in Flammen.

Dabei wurde aufseiten der Wortlautverteidiger der Kinderbücher praktisch nicht debattiert, was die Reformerseite formulierte: dass es hier um koloniales Erbe ging, das die umkämpften Bücher durchzog. Im Übrigen eine Gemeinsamkeit der Kinderbuch- mit der ersten Leitkulturdebatte, die ihrerseits ein koloniales Erziehungsprogramm für die migrantischen „Barbaren“ mitmeinte – Kenner könnten sich an das Wort vom „white man’s burden“ erinnert fühlen, das in Großbritannien geprägt wurde, aber auch in anderen Kolonialländern ein wichtiges ideologisches Versatzstück war. Deutschland war eines von ihnen und auch nicht nur ein paar wilhelminische Jahre lang, wie postkoloniale Initiativen und Aktivistinnen und Aktivisten der schwarzen Community in Deutschland immer wieder betonen. Schon Brandenburgs Kurfürst schickte im 17. Jahrhundert Missionen zur kolonialen Ausbeutung nach Afrika. Die Geschichte von Berlins Mohrenstraße in Mitte reicht weiter zurück als in die Hochzeit des europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert.

Die Leitkulturdebatte, die wir vor einem Jahr erlebt haben, schien ebenso rasch zu Ende zu sein wie jene 14 Jahre zuvor. Doch sie entzündet sich gerade neu, am Berliner Humboldtforum, der Kunst aus Afrika, die dort ausgestellt werden soll, und daran, wie sie einst, geraubt oder abgepresst, nach Deutschland kam. Das Reden über deutsche Leitkultur könnte endgültig aus der sogenannten Institutionenpolitik in die Kultur gewandert sein. Erste Herausforderinnen – wie die neue Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, Shermin Langhoff – haben dort schon Land gewonnen. Gut so. Das alte deutsche „Wir“ muss davor keine Angst haben: Es hat nichts zu fürchten, als dass es ein paar neue Einsichten gewinnt. Und die kann die bunte Republik Deutschland sehr gut brauchen.

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