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Meinung: Die da unten sieht man nicht

Die Bundesrepublik ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Die Welt der Reichen hat sich längst von der der Armen entkoppelt

Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen?“, fragte Angela Merkel, die Kanzlerin, in ihrer Neujahrsansprache Ende letzten Jahres. „Sie haben schon lange eine Idee? Es muss gar nichts Überragendes sein, aber sollte 2006 nicht das Jahr sein, in dem Sie versuchen, diese Idee in die Tat umsetzen? Überraschen wir uns damit, was möglich ist! Fangen wir einfach an ab morgen früh.“ Dieser kindliche Machbarkeitsglaube ist lächerlich. Die Politik verstärkt dadurch nur den Eindruck, den man ohnehin schon hat: Sie spielt die Rolle der Bordapotheke auf der Titanic.

Der Umgang mit Armut und massenhaftem Ausschluss erfordert ein Höchstmaß an politischer Fantasie, jedenfalls viel mehr, als nur die Menschen auf die Segnungen von Hartz IV zu verweisen. Doch glaube keiner, auch die Betroffenen nicht, mit Fantasie im Gepäck sei das Problem dann im Handumdrehen zu lösen. Hier ein bisschen mehr Geld, dort ein bisschen mehr Gerechtigkeit, dazu ein wenig Umverteilung – so leicht wird es nicht funktionieren.

Mal abgesehen davon, dass die öffentlichen Kassen leer sind – mit Geld allein ist die Armut, mit der wir es hier zu tun haben, nicht zu beheben. Ohne Geld allerdings auch nicht! Und Gerechtigkeit ist zwar ein hohes Gut, sie manifestiert sich in dem unveränderlichen Willen, jedem sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu gewähren. Gerechtigkeit ist andererseits jedoch auch eine billige Ware geworden. Jede Partei hat sie im Angebot. Es gilt also stets zu fragen, für wen Gerechtigkeit erzielt, wem eine Chance ermöglicht werden soll und wer dafür die Belastungen zu tragen hat.

In Deutschland hat die Ungleichheit heute ein Maß erreicht, das die Grenze zur Unsittlichkeit überschreitet. Die, die mehr haben, können ihren Reichtum vor denen, die weniger haben, nicht mehr rechtfertigen. Sowohl die Vermögen als auch die Einkommen driften immer weiter auseinander. Die Vermögen umfassten 2003 eine Summe von 5 Billionen Euro. Das macht im Durchschnitt 133 000 Euro pro Haushalt. Tatsächlich sieht es so aus: Die obersten zehn Prozent verfügen über 670 000 Euro, und die untersten zehn Prozent haben über 8000 Euro Schulden. Bei den Einkommen sind die Unterschiede ähnlich drastisch. Nach Berechnungen der Managementberatung Kienbaum verdienen die Vorstände der 30 größten deutschen Unternehmen heute mehr als doppelt so viel wie noch 1998; im Schnitt fast 200 000 Euro im Monat. Die Reallöhne der Beschäftigten dagegen sind heute niedriger als 1991. Der durchschnittliche Vollzeitarbeitnehmer verdient 2448 Euro im Monat.

Die Bundesrepublik ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Dem Reichtum steht eine Armut gegenüber, die sich längst entkoppelt hat. Es gibt Millionen von Verlierern, die die Gewinner einfach nicht mehr stören. Sie sind für das wirtschaftliche Funktionieren nutzlos geworden. Ihre Arbeitslosigkeit schließt sie aus der Gesellschaft aus. Ihr Ausschluss verschärft ihre Armut. Die Armut macht ihnen ein würdevolles Leben kaum möglich. Sie sind ein für alle Mal abgehängt.

BOHREN IN EINER ANDEREN WELT

Kirsten Falk (38), Berlin, Zahnärztin:

Einmal wollte jemand dringend die Frau Doktor sprechen. Sie kam durch den vollen Warteraum, nahm den Telefonhörer ans Ohr, stützte sich auf den Stapel Patientenkarten. Der Mann stellte sich vor. Er war aus dem Team von Johannes B. Kerner. Er sprach, als hätte sie das große Los gezogen.

„Kerner, Kerner … Ist das so eine bunte Mittagsshow?“, fragte Kirsten Falk. „Dann komme ich nicht.“ Der Mann muss nach Worten gesucht haben, die der Frau, die scheinbar völlig woanders unterwegs war, unsere Talkshowwelt erklärten. Er fand keine. Er sagte: „Kerner, das ist doch der Biolek des ZDF.“ Sie fuhr dann nach Hamburg in die Sendung. Sie hatte Lampenfieber, obwohl fast alle Leute ihr eigentlich immer dieselben Fragen stellen: Warum machen Sie das? Was sind die Obdachlosen für Menschen? Was für Krankheiten haben die? Ekeln Sie sich nicht vor denen?

Ekel, das ist auch irgendwie kein passendes Wort. Kirsten Falk soll von Schicksalen berichten. Niemand will trockene Zahlen. Die Berliner Ämter zählen neun- bis zehntausend Menschen ohne Wohnadresse. Bei der MUT Gesellschaft für Gesundheit, einem gemeinnützigen Unternehmen der Berliner Ärztekammer, das in der Stadt zwei Arztpraxen für diese Menschen betreibt, meint man, dass es mehr Obdachlose gibt. Hinter den trockenen Zahlen verbirgt sich modriges Gelände. Berlin, Deutschland müsste Obdachlosigkeit verhindern, anstatt sie zu registrieren. Anstatt bestenfalls an ihr herumzudoktern.

Im Flur vor den Arztpraxen gegenüber dem Berliner Ostbahnhof hat jemand ein Adventsgesteck aufgestellt. Bald ist Weihnachten. Man zündet Lichter an, überall dort, wo es Sinn hat, weil der Wind die Lichter nicht gleich wieder ausweht. Viele Obdachlose, die das Haus am Stralauer Platz betreten, kommen gar nicht bis in den weihnachtlichen Flur. Sie biegen am Eingang nach links zur Küche ab, um Essen zu holen. Sie frieren, haben Hunger, wollen sich waschen. Sie sind gewiss nicht ohne Beschwerden. Aber um eine Krankheit zu spüren, müsste ihr Leben sich insgesamt gesünder anfühlen.

Manchmal kommen der Doktor und eine Schwester zur Küche und reden auf die Obdachlosen ein. Die schlurfen dann grummelnd mit nach hinten zur Arztpraxis, lassen sich überreden, wenigstens mal den Blutdruck zu messen. Der Doktor findet noch mehr, was nicht in Ordnung ist. Er schickt sie nach nebenan zur Zahnärztin.

In jedem Mund, in den sie nun schaut, gibt es für Kirsten Falk eine Menge zu tun. Sie kann nur helfen, wenn die Patienten, aus deren Leben sich Datum und Uhrzeit verflüchtigt haben, nach dem ersten Mal wiederkommen. Wenn sie dann nicht allzu sehr wanken vom Alkohol. Wenn ihr Kreislauf bei der Anästhesie nicht zusammenbricht. Die Zahnärztin ist kleiner als die meisten Obdachlosen, überwiegend Männer, die sie per Knopfdruck auf dem Behandlungsstuhl in die Waagerechte befördert. Sie berlinert wie das Mädchen von nebenan, wirft mit burschikosen Floskeln, rafft ihre Haare zu einem schaukelnden Zöpfchen. Sie holt den Doktor zu Hilfe, weil ein Riese mit Vollbart und Ohrring unter ihren Fingern abzuklappen droht. „Was ist denn los?“, fragt der Doktor. „Haben Sie Angst?“ Frau Doktor Falk ist das ganze Gegenteil des rauen Daseins unter freiem Himmel. Sie ist ein heilsamer Moment. Sie ist demjenigen unheimlich, der heilsame Momente im Grunde nicht kennt. „Nur vor solchen Frauen mit solchen Spritzen“, antwortet der vollbärtige Mann.

Jeden Dienstagvormittag versucht sie in der Praxis am Ostbahnhof, Zähne mit der Zange zu greifen, die nicht mehr wie Zähne aussehen. Sie bohrt gegen starke Schmerzen an. Sie telefoniert nach Zahntechnikern und Kieferchirurgen, die kostenlos weiterhelfen. Verteilt Zahnbürsten und Creme. Arbeitet mit gespendeten Medikamenten und Materialien. Der Zahnersatz ist ein ganz einfacher, doch er lässt seinen Besitzer wie jemanden aussehen, der ein normales Leben führt. Wann immer sie eine Packung Antibiotika rausgibt, setzt sie einen strengen Blick auf. Die Tabletten müssen regelmäßig eingenommen werden. In der Welt, der ihre Patienten nicht angehören, ist das Zeug teuer. In dieser Welt gibt es die Praxisgebühr. Wer beim Arzt vorbeischaut, muss seit Januar 2004 zehn Euro hinlegen. In den zwei Berliner Zahnarztpraxen der MUT machten deshalb zunächst selbst die Schmerzpatienten wieder kehrt. In dieser Welt gibt es Hartz IV. Laut Zeitungsberichten sollen eine halbe Million Deutsche, seit das Gesetz Anfang 2005 in Kraft trat, ihre Krankenversicherung verloren haben. In dieser Welt gibt es immer mehr Menschen, die sich etwas nicht leisten können.

Hin und wieder sitzt am Eingang des Hauses am Ostbahnhof eine Schwester und beobachtet die Hereinkommenden. Wer versichert ist und nur die zehn Euro sparen will, gehört eigentlich nicht hierher. Für Kinder und Asylbewerber gibt es andere Anlaufstellen. Eigentlich dürfte die Schwester gar niemanden einlassen, der nicht auf der Straße lebt. Aber sie sitzt seit über zehn Jahren hier, hat ein Näschen dafür, wer Hilfe braucht, kennt Namen und Geschichten. Sie schaut der Not ins Gesicht. Spricht mit ihr. Einst hat sie ihre Pappenheimer schon von Weitem gerochen. Sie schwatzten drauflos, anstatt zwischen zwei Satzzeichen zu sagen, wo sie Schmerzen haben. Sie drucksten herum, wenn sie ihre Namen nennen sollten. Die Schwester ahnte, dass vielleicht die Polizei nach ihnen suchte, weil sie geklaut hatten. Dass sie sich schämten. Viele von ihnen waren nicht einmal beim Sozialamt registriert. Den Weg dorthin zu gehen, einen Termin einzuhalten, Formulare auszufüllen, das war nichts für jemanden, der mit der Hand in eine Richtung fuchtelte, wenn man von ihm wissen wollte, woher er kam. Der unter hektischen Bewegungen seine Schritte nur ungefähr dorthin lenkte, wo er gerade eben noch hinwollte.

Vor allem in den letzten zwei Jahren kommen mehr und mehr andere Menschen am Ostbahnhof zur Tür herein. Sie sagen Sätze wie: „Ich hab meine Zähne total vernachlässigt. Hier ist ein Loch und da, das werden Sie ja selber sehen.“ Die Schwester lässt sie durch, wenn sie starke Schmerzen haben. Ihr Posten am Eingang nennt sich: Sozialberaterin. Sie weiß: Solche Schmerzen fangen jeden ein, der andere Sorgen hat als die eigene Gesundheit. Sie winkt Selbstständige durch, die ein paar Monate keine Aufträge hatten, kein Geld verdient haben und schwupp aus der Krankenversicherung geflogen sind. Ein Mann hat vor Monaten in der Zeitung gelesen, dass es hier eine Zahnarztpraxis gibt. Er ist aus dem Westen der Stadt mehrere Stunden hierher gelaufen. Als gehörte er noch zur Gemeinschaft der Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs, trägt er die Zeitung von heute unterm Arm. Ein anderer Mann hat die Ärztin im Fernsehen gesehen. Die Schwester lässt beide zu ihr ins Behandlungszimmer. „Wer mich wirklich übers Ohr hauen will, der kennt seine Rechte“, sagt sie. „Und wer seine Rechte kennt, kann sich irgendwie festhalten. Der sinkt nicht so tief.“

Als die Zahnärztin Kirsten Falk Ende der 90er Jahre damit begann, einmal in der Woche Obdachlose zu behandeln, hat sie sich gefragt, wie ihr Patient, ein Kapitän der Handelsmarine, unter die Brücke geraten war. Was den pfiffigen Sportlehrer aus der Bahn geworfen hatte, den Psychologen. Die Antwort zu kennen, machte die Sache nicht besser. „Ehe kaputt, Suff, Schulden, Mahnbescheide, Räumungsklage, raus aus dem Geschehen“, sagt sie. „Es ist immer dasselbe.“ Wenn in ihrer eigenen Praxis in Lichtenberg ein Patient Alkohol getrunken hat, schickt sie ihn weg. Die Männer am Ostbahnhof wagen nicht, die Flasche noch einmal anzusetzen, kurz bevor sie ins Behandlungszimmer gehen. Kirsten Falk hofft lediglich, dass zwischen dem letzten Schluck und dem nächsten nicht so viel Zeit vergeht, dass die Männer zu zittern beginnen. Sie ist Zahnärztin, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Ihr Ehemann ist Rechtsanwalt. Wenn sie am Abendbrottisch sitzen und über den Tag reden, der hinter ihnen liegt, reden sie über Dinge, die in einer gewissen Ordnung sind. Kirsten Falk weiß von ihrem Mann, dass es nicht so leicht ist, jemanden aus der Wohnung zu schmeißen. Nicht nur am Ostbahnhof, auch in ihrer eigenen Zahnarztpraxis wissen die Menschen nicht viel über Gesetze und Regeln. Auch nicht über solche, die sie schützen. Briefe von Anwälten jagen ihnen einen unheimlichen Schrecken ein, auch wenn die Anwälte auf ihrer Seite stehen.

Auf dem Flur vor den Arztpraxen am Ostbahnhof geht es darum, dass jeder, der duscht, das Bad rasch für den Nächsten frei macht. Darum, dass die Hunde nicht in die Küche laufen. Es geht um das Zeug in den Kisten, das die Firma Globetrotter zu Weihnachten gespendet hat. Manch einem sind die gefütterten Schuhe und gesteppten Jacken im Frost von Nutzen. Manch einer verscherbelt sie. Es herrscht ein weithin vernehmlicher Ton.

Es geht um das tägliche Dasein, nicht um das, was nicht sein kann. Und schon gar nicht um Hartz IV. Politik ist so weit entfernt wie der warme Sommer. Scheinbar. In Wahrheit ist Politik an allem hier schuld. In aller Regelmäßigkeit meldet die MUT dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, wie viele Menschen in Not am Ostbahnhof über den Flur und in die Küche gekommen sind. Von 200 auf den Ämtern gemeldeten Obdachlosen, sagt man bei der MUT, waren 400 schon hier.

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