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Meinung: Die Dritte Welt braucht einen Thomas Münzer Auf zur nächsten Welthandelsrunde – mit einer starken Stimme für die armen Staaten / Von Hans-Dietrich Genscher

POSITIONEN Das Datum 14.09.

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Das Datum 14.09.2003 sollte man sich merken. Die Verhandlungen der Welthandelskonferenz in Cancun sind gescheitert. Wenn ideologische Globalisierungsgegner das als Sieg feiern, dann können sich die Entwicklungsländer an das alte Wort erinnern: „Gott schütze mich vor meinen – vermeintlichen – Freunden.“ Dass auch der Deutsche Gewerkschaftsbund zu denen gehört, die das Scheitern begrüßen, kann nur noch Kopfschütteln hervorrufen. Seriöse Untersuchungen besagen, dass ein Liberalisierungserfolg das Welthandelsvolumen um 600 Milliarden Dollar hätte steigern können. Das bedeutet Wachstum, Zukunftschancen, Arbeitsplätze.

Bundeskanzler und Wirtschaftsminister haben Recht, wenn sie einen neuen Versuch in Genf verlangen. Das verlangt von den Industrieländern neues Denken – marktwirtschaftlich. Die Weltwirtschaft braucht den Abbau von Handelshindernissen und Subventionen. Die Industriestaaten des G8-Gipfels müssen handeln – marktwirtschaftlich.

Mit einem Rückfall in den Bilateralismus durch Abschluss von Handelsabkommen der USA und der EU mit einzelnen Staaten der Dritten Welt würde der freie Welthandel zusätzlich behindert werden. Die Agrarsubventionspolitik der EU und der USA, die im Mittelpunkt der Cancun-Konferenz stand, ist ohnehin ein permanenter Verstoß gegen einen freien Welthandel. Neben selbst geschaffenen Hindernissen in den Staaten der Dritten Welt ist die Agrarsubventionspolitik der großen wirtschaftlichen Zentren des Nordens eine Hindernis für die Entwicklung im Süden.

Das schadet nicht nur den Entwicklungsländern, sondern auch den Industriestaaten. Sie verderben sich selbst die Chance, dem Welthandel neue Impulse zu geben, neue Märkte zu entwickeln. Und sie investieren viel Geld in Strukturen, die auf Dauer nicht haltbar sind, anstatt in Bildung, Forschung und Entwicklung.

Die Reaktionen auf das Scheitern in Cancun sind bezeichnend. Reicht es zu sagen, die Entwicklungsländer müssten eben die Folgen tragen, wenn sie sich nicht kompromissbereiter geben? Das lässt genauso wie die Forderung nach bilateralen Abkommen jedes Verständnis für Interessenlagen in einer immer enger zusammenwachsenden globalisierten Welt vermissen. Es gibt keine entfernten Gebiete mehr, und Niedergang in einem Teil der Welt bedeutet Nachteile für die ganze Welt.

Noch fehlt den durch die Agrarpolitik des Nordens benachteiligten Staaten der Dritten Welt in Afrika, aber nicht nur dort, eine starke Stimme, eine Art globaler Thomas Münzer. Aber niemand sollte glauben, er könne auf Dauer seine Politik auf die Leidensfähigkeit Benachteiligter gründen. Wer einen freien Welthandel wirklich will, muss seine Regeln auch selbst beachten. Natürlich muss mangelnder Investitionsschutz in vielen Teilen der Welt überwunden werden, auch im Interesse der Länder, in denen er fehlt. Aber eine Rechtfertigung für die Agrarexportpolitik der Industriestaaten ist er nicht.

Gewiss sind die Prozeduren der WTO, der Welthandelsorganisation, verbesserungsfähig. Aber die Probleme, die wir jetzt zu lösen haben, können nicht auf die lange Bank geschoben werden, bis die WTO neue Entscheidungsmechanismen entwickelt hat. Und es fällt schon auf, dass die WTO in dem Augenblick in die Kritik der Industriestaaten gerät, in dem diese sich zum ersten Mal in einem wichtigen weltwirtschaftlichen Bereich einer geschlossenen Front von Entwicklungs- und Schwellenländern gegenübersehen, die – wenn auch aus höchst unterschiedlichen Motiven – einen gemeinsamen Standpunkt vertreten.

Der Ausgang von Cancun ist gewiss ein Anlass, über eine Reform der WTO nachzudenken. Aber gehandelt werden muss jetzt. Jahrelang war die Nord-Süd-Diskussion belastet durch die Forderung der Staaten des Südens nach Handelsregelungen, die planwirtschaftlichen Modellen nacheiferten. Jetzt sind es die Entwicklungsländer, die in einem wichtigen Bereich nach der Verwirklichung eines freien Welthandels rufen. Dem sollten sich die großen marktwirtschaftlichen Zentren der Welt nicht verweigern. Die neue Weltordnung muss in allen Teilen der Welt als gerecht empfunden werden können.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister. Foto: Mike Wolff

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